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Johannes Tröndle 

www.poesiegalerie, Dezember 2021

Der wechselseitigen Beeinflussung von Literatur und Bildender Kunst lässt sich in Erika Wimmer Mazohls Band nachspüren – und das sehr vielschichtig. Das Buch ist, wie die Autorin selbst in einer Danksagung schreibt, als „lyrischer Dialog“ mit dem Südtiroler Künstler Markus Vallazza konzipiert. Das Werk dieses 2019 verstorbenen Malers, Grafikers und Illustrators war auf besondere Weise der Literatur verbunden: Nicht nur, dass er selbst auch Gedichte verfasst hat; er hat sich seit den 1970er Jahren in zahlreichen Zeichnungen und Radierungen mit Werken der Weltliteratur auseinandergesetzt, von Homer und Oswald von Wolkenstein bis Ezra Pound oder Friederike Mayröcker. Besonders intensiv war seine Beschäftigung mit Dantes Divina Commedia (ein literarisches Werk, das selbst bekanntlich zu allen Zeiten außerordentlichen Einfluss auf die Bildende Kunst genommen hat, um hier nur die Arbeiten von Sandro Botticelli und William Blake zu nennen). Insgesamt 9 Skizzenbücher mit Vorstudien und Entwürfen entstehen, und darunter eine umfangreiche Serie von Porträtskizzen: 378 an der Zahl, Miniaturen, die jeweils den Kopf Dantes im Profil zeigen (charakteristisch: „Römernase“ und hervorstehendes Kinn) und vom Künstler mit einem Stichwort versehen sind: etwa visionär, inquisitorisch, ambivalent oder komödiantisch. Kopfgeburten und Psychogramme nennt Vallazza diese Serie.

Hier knüpft Erika Wimmer Mazohl an. Die Autorin, die Vallazza persönlich gekannt und auch bereits über dessen Dante-Auseinandersetzung publiziert hat, nimmt je eines der Charakterporträts zum Ausgangspunkt für ein Gedicht. Sie übernimmt dabei auch die Titel Vallazzas, die sie in eckige Klammern setzt und fallweise mit eigenen Titeln ergänzt.

Was als eine Art „Spiegel im Spiegel“, als zweifache Transformation der Kunstformen (Text wird Bild wird wieder zu Text) gelesen werden kann, ist seitens der Autorin dabei nicht allzu dogmatisch gemeint. Wie schon Vallazza, dessen Skizzen weniger den Stoff illustrieren als von selbstbewusster, spielerischer Aneignung sprechen, nutzt auch Wimmer Mazohl ihre Vorlage als Sprungbrett – oft mitten in die Gegenwart hinein, etwa wenn Vallazzas nasenschützer ein mund nasen schutz und dem Gedicht die wohl sarkastisch gemeinte Widmung für corona 2020 vorangestellt wird. Trotzdem bleibt der Vallazza-Bezug greifbar und im direkten Vergleich mit den Porträts (eine Auswahl davon ist in der Mitte des Buches abgedruckt) zeigt sich, dass einige Texte tatsächlich auch wie Bildbeschreibungen funktionieren – freilich nicht „technisch“, sondern lyrisch gefasst und assoziativ erweitert. Etwa in der ersten Strophe des Gedichts [geographisch]:

während dein kopf dir ravenna flüstert zieht deine nase dich nach paris

Tatsächlich sind auf dem entsprechenden Vallaza´schen Charakterkopf Städtenamen vermerkt, Ravenna findet sich im Bereich der Stirn, Paris direkt an der Nase.Oder: In Vallazzas ambivalent untertitelter Skizze ist dem Dante-Porträt eine grotesk anmutende Theatermaske übergezogen. Das Lachen, die dabei gebleckten Zähne, die helle Gesichtshaut, die den Schatten verschwinden lässt: all das ist in Wimmer Mazohls Korrespondenz-Gedicht beschrieben.

In ätzend krabbeln bizarr vergrößerte Ameisen über des Meisters Gesicht – und über die entsprechenden Verse, wo sie, als lasius niger und formica paralugubris spezifiziert, ihre Säure verspritzen. Ist der Bezug zwischen dem titelgebenden Stichwort und der Waldameise schon in Vallazzas Bild offensichtlich, so fügt Wimmer Mazohl dem sehr treffend einen weiteren Assoziationsraum hinzu: das ätzen in Zusammenhang mit der Drucktechnik:

denn du hast etwas auf der platte / deine krausen gedanken ziehn / mit der säure hinein ins bild / erst der druck lässt die ameisen los

Sehr häufig nutzen die Gedichte die Form einer Anrede: ein lyrisches Ich, das mit dem Porträtbild, verstanden als lyrisches Du, in Kommunikation, in Dialog tritt. Eine weitere Dimension stellen hier die zahlreichen Widmungsgedichte dar: an Ingeborg Bachmann, Erwin Schrödinger, die Fotografen Lennart Nilsson, Luigi Fieni und Lena Marie Fossen; nicht zuletzt an Markus Vallazza selbst.

Nicht nur eines, viele zweite Gesichter adressiert der Gedichtband also – und bisweilen sind es zwei Seiten desselben (des eigenen) Gesichts. So könnte mit dem titelgebenden zweiten Gesicht auch einfach die unsichtbare, der Profilansicht abgewandte zweite Gesichtshälfte gemeint sein, das nicht dargestellte Äquivalent. Mehrere Gedichte nehmen diese Wendung auf – gerade die Beispiele oben, die Maske und die Druckplatte, eignen sich gut für dieses Spiel mit Identität(en): Es gibt ein Positiv und ein Negativ, beide gleichzeitig voneinander abgelöst und aufeinander bezogen. In manchen der Gedichte wirkt diese Gegenüberstellung oder Konfrontation zwischen einem Ich und einem Du zunächst vielleicht etwas simpel angelegt (etwa im schon zitierten Gedicht [ambivalent], das mit Gegensatzpaaren wie tränen bzw. gelächter, schreist bzw. still arbeitet). Doch bilden derlei Oppositionspaare nur einen Ausgangspunkt, den die Gedichte in ihrer inhaltlichen und formalen Vielfalt dann hinter sich lassen. Schon die Psychogramme Vallazzas beeindrucken in ihrem Variantenreichtum: Der serielle Charakter bleibt gewahrt, das Dante-Porträt auf den ersten Blick als „genau dieses“ identifizierbar – und gleichzeitig wird es in zahllose Facetten bis ins Phantastische hinein ausdifferenziert. Ähnlich spielen auch Wimmer Mazohls Gedichte in ganz verschiedenen Ton- und Gefühlslagen, wechseln unbekümmert das Register, teils auch die Sprache (englische, häufiger italienische Einsprengsel).

Etwas aus der Reihe fällt das zweite der vier Kapitel. Hier diente (anstelle der Miniaturen) ein ganzseitiges Porträtbild Dantes als Vorlage für einen kleinen Gedichtzyklus, der formal stärker gebunden (vierhebiger Trochäus, teils durch Enjambement aufgebrochen) und inhaltlich direkt an den ersten Canto der Commedia angelehnt ist – teils vielleicht etwas zu direkt, hier lassen der gleichbleibende Rhythmus in Kombination mit bekannten Dante-Motiven (Wald, Berg, Bestien) an eine Stilübung denken und etwas von jener Originalität vermissen, die dem Band ansonsten eignet.

Ein nicht zu unterschätzendes Register im Stimmungsreigen der Dichterin ist der Humor, und gerne auch ein bitterböser. So wächst sich das einschlägig betitelte [misanthrophisch] zu einem Schimpfgedicht fast schon Werner-Schwab´schen Ausmaßes aus. Und im eingangs erwähnten „Corona-Gedicht“ mund nasen schutz [nasenschützer] wird dem Virus stilsicher im Wiener Gangster-Jargon zu Leibe gerückt: mit oida mafioso, kusch und goschn, hefn und lispelbahö.Übrigens gibt es noch ein zweites einem virus gewidmete Gedicht – allerdings eines, in dem sich Betten auf Tabletten reimt. Das ist bekanntlich noch Zukunftsmusik.

Wolfgang Praßl
LiLiT-Ausgabe Rezensionen 2022

Der Zirkelschlag, den Erika Wimmer Mazohl in Das zweite Gesicht vollführt, beginnt bei Bildern eines zeitgenössischen Künstlers, berührt anhand dieser ein epochales literarisches Werk der Vergangenheit, gelangt über das damit in Zusammenhang stehende Porträt eines berühmten Renaissancemalers wieder zurück zur darstellenden Kunst und schließt sich letztendlich bei ihren eigenen Gedichten, in denen alle diese Impressionen assoziativ mit eigenen Erfahrungen verbunden werden und dergestalt ein neues Ganzes bilden. Als Kern und Ausgangspunkt bezeichnet Wimmer Mazohl die lyrische Auseinandersetzung mit den Skizzenheften des Südtirolers Markus Vallazza, welche dieser im Zuge seiner Arbeit am Radierzyklus zu Dante Alighieris Divina Commedia mit bildnerischen Ideen gefüllt hat. Einige dieser Skizzenhefte zu den Gesängen der „Hölle“ enthalten in schematisch wiederholender Form zahlreiche Charakterstudien zum berühmten Dante-Porträt von Sandro Botticelli, in denen Vallazza an einer einzigen Gestalt das gesamte emotionale Ausdrucksspektrum mit verschiedenen darstellenden Mitteln auszureizen versucht. Diese Psychogramme oder Kopfgeburten, wie sie Vallazza selbst bezeichnet, beinhalten eine große Schnittmenge mit der Lyrik, da sie mit Leben, Liebe, Tod und Sinnlichkeit als übergeordneten Eckpunkten oft die gleichen Schlüsselthemen behandeln.
Aufgrund der großen Bedeutung, die dem bildnerischen Ausgangsmaterial zukommt, enthält der hochwertig gebundene Gedichtband einen kompakten Bildteil aus elf Seiten, in dem alle 83 Psychogramme, auf die im Titel der einzelnen Gedichte referiert wird, auch abgebildet sind. Dies ermöglicht ein leichtes Querlesen und erweitert die Lektüreerfahrung um den Vergleich mit der visuellen Ebene genauso, wie auch das Hintergrundwissen um die Divina Commedia eine intertextuelle Erweiterung darstellt, denn nicht von ungefähr enthalten sehr viele Gedichte eingestreute Verse in italienischer Sprache, um dergestalt auf diesen Kulturraum zu verweisen. Entfernt lässt sich auch ein Bezug zur Formensprache ausmachen. Dominiert in der Divina Commedia die Terzine als Strophenform und bei den Psychogrammen von Vallazza das schematische Raster drei mal drei auf einer Seite, so finden sich in Wimmer Mazohls Gedichten zwar keine streng durchgezogenen Strophen- oder Versformen, aber das Bestreben um Parallelität bzw. Spiegelung im Aufbau sowie das Bemühen um wiederkehrende Strukturen innerhalb der einzelnen Gedichte lassen sich nicht von der Hand weisen.
Da der Verknüpfung zwischen Text und Bild eine so große Bedeutung zukommt, kommt man bei der Lektüre nicht umhin, Parallelen zu suchen. Augenscheinlich bleiben viele Gedichte vor allem in den ersten Strophen sehr nahe an einer poetischen Bildbeschreibung, welche die Stimmung der jeweiligen Darstellung zu erfassen versucht und aufgrund einer punktuellen Anreicherung mit persönlichen Sichtweisen den Grundstein für die Erweiterung legt. So steht beim Gedicht „verknotet“ klar der darstellende Aspekt im Vordergrund, auf den im direkten Anschluss die weiterführenden Auswirkungen einer solch verknoteten Gesichtsform imaginiert werden:

stramm die knoten um
stirn und nase
statt dem auge ein loch
[…]
die fratze dahinter
blind und taub
und das gehirn verreckt (S. 57)

Einen größeren Abstand zur Vorlage haben jene Gedichte, die überwiegend stilistische oder formale Beziehungen zum Bild aufweisen, wie etwa beim Gedicht „schizzinoso“ (S. 75), das inhaltlich assoziativ bleibt bzw. nur den individuellen Zustand zu erfassen versucht, aufgrund der auffälligen Strophenform sich jedoch Bezüge zum Bild herstellen lassen. In anderen Gedichten steigert sich der Abstraktionsgrad durch das verstärkte Einbringen externer Beobachtungen, von Erinnerungen oder persönlichen Eindrücken, womit oft nur noch der Titel oder einzelne Begriffe innerhalb der Verse einen konkreten Hinweis auf das Bild geben. So finden sich auch Themenfelder, welche die unmittelbare Gegenwart betreffen, andeutungsweise kommt zum Beispiel die Flüchtlingsthematik zur Sprache (S. 28 und S. 37), der Klimawandel (S. 77) oder die Corona-Pandemie (S. 129). Am häufigsten sind allerdings die Anspielungen auf die Divina Commedia bzw. die Gesänge der „Hölle“, denn sogar als Nichtexperte können in den Gedichten Passagen ausgemacht werden, die sprachlich oder inhaltlich auf diesen Text Bezug nehmen. Zum Beispiel lesen sich jene sechs Gedichte, die einen geschlossenen Zyklus zum Bild „Dante und die Bestien im Kopf“ bilden, wie der Aufgesang zu einem eigenen Epos oder wie eine kompakte Neudichtung des ursprünglichen Textes. In ihnen kommt ein altertümlicher Sprachstil zur Anwendung und über alle sechs Gedichte hinweg dominiert ein hoher Grad der Formalisierung, woraus sich eine gewisse Nähe zum klassischen Strophenbau ableiten lässt. Geht man noch weiter in die Interpretation hinein, könnte hier auch die Farbmetaphorik angeführt werden – denn den Gedichttiteln sind Farben zugewiesen, die sich „Hölle“, „Läuterungsberg“ und „Paradies“ zuordnen lassen.
Über sich hinausweisend sind jene Gedichte, die sich mit Maskierungen aller Art auseinandersetzen, worauf nicht zuletzt auch der Titel des Gedichtbands Das zweite Gesicht klar Bezug nimmt. Das Bild zum Gedicht „ambivalent“ zeigt beispielsweise ein maskiertes Porträt, dessen Gesichtsausdruck nicht eindeutig feststeht. Die zweite Strophe des dazugehörenden Gedichts lautet:

du und ich / wir
sind stets verschieden
und doch sind wir gleich
ich bin die andere
seite / das zweite gesicht
bin die tränen
deines gelächters (S. 17)

Das Ich dieses Gedichts scheint genau den gegensätzlichen Emotionen unterworfen zu sein wie jenes, das die Maske nach außen hin zeigt. Anders gesagt, könnte die Maske auch Träger genau jener Emotion sein, die man nach außen hin preisgeben will, ganz ungeachtet dessen, wie es darunter tatsächlich aussieht. Dergestalt verliert sich der Bezug zwischen Darstellendem und Dargestellten, womit die Differenzen vermeintlich größer werden als die Gemeinsamkeiten, doch unterm Strich bleibt man ein und dieselbe Person.
Das zweite Gesicht von Wimmer Mazohl kann zweifellos als umfassendes und vielschichtiges Werk bezeichnet werden, da der intertextuelle, intermediale und auch interpersonelle Zirkelschlag Kunst und Kultur aus Jahrhunderten in sich einschließt. Dieses umfassende Ausgangsmaterial wird von Wimmer Mazohl mit ihrer eigenen Erfahrungswelt angereichert und in eine neue lyrische Form hineinkomprimiert. Bereits das ursprüngliche Epos hatte die Intention, „innere Gefühls- und Seelenzustände sichtbar zu machen“. Daher war für Markus Vallazza die Divina Commedia „Ausganspunkt und Inspiration“, um „über sich selbst und seine Empfindungen, über uns und unsere Vergangenheit und Gegenwart“ zu erzählen, und er versuchte dies im Rahmen seiner künstlerischen Ausdrucksweise umzusetzen. Diese Intention greift Wimmer Mazohl auf. Das Ergebnis sind äußerst gelungene und die unterschiedlichen Sinne ansprechende Gedichte. Im Kosmos einer erweiterten Dante-Rezeption fügt sie dergestalt einen weiteren Baustein hinzu. Unter Berücksichtigung aller Einflüsse und in Verbindung mit dem anregenden Bildteil stellt dieser neue Gedichtband somit eine Bereicherung für jede Gedichtsammlung dar.

https://literaturtirol.at/lilit/das-zweite-gesicht-gedichte-zu-dante-miniaturen-von-markus-vallazza-23-02-2022

Anna Rottensteiner

Die Furche Booklet, Juni 2021

Der Limbus Verlag in Innsbruck präsentiert nicht nur in seiner Reihe „Limbus Lyrik“ exquisite Poesie deutschsprachiger Dichterinnen und Dichter, sondern gewährt auch in seinem regulären Programm außergewöhnlichen, bibliophil gestalteten Lyrik-Publikationen Raum. Im Frühjahr sind gleich zwei Bände erschienen, auf die es sich lohnt, einen genaueren Blick zu richten, zumal sie, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, einen künstlerisch transdisziplinären Ansatz verfolgen.

In „Das zweite Gesicht“ setzt sich Erika Wimmer Mazohl mit den Skizzenbüchern des Bozner Künstlers Markus Vallazza (1936–2019) zu Dante Alighieris „Inferno“ auseinander und somit – vermittelt durch den Blick eines Künstlers, dessen Œuvre oft eine künstlerische Verbeugung vor den Werken von Schriftstellern und Philosophen ist –, auch mit jenem Dichter, der vor 700 Jahren gestorben ist und als der Begründer der italienischen Schriftsprache gilt.

Bei den Skizzen, die Vallazza als „Kopfgeburten“ oder „Psychogramme“ bezeichnete, hat jede Miniatur der klassisch markanten Profi lansicht von Dante ein Adjektiv als Titel – und eben diese Titel greift Wimmer Mazohl in ihrem Gedichtband auf. Da fi nden wir etwa visionär, künstlerisch, kartografi sch, romantisch, astral, transparent, tonangebend und viele andere: sowohl menschliche Eigenschaften in ihrer ganzen Bandbreite als auch Bezüge zur europäischen Kunstund Kulturgeschichte, auf jeden Fall ein Spiel mit Form und Inhalt.

Was sofort für den Gedichtband einnimmt, ist das dichtende und beobachtende lyrische Ich, das sich von Text zu Text verwandelt und metamorphisch wandelt und dabei genau so viele Gesichter, Stimmen und poetische Modi einzunehmen vermag, wie es die Adjektiva der Skizzen Vallazzas hergeben. Es fi ndet eine ganz eigene Perspektive, die, einmal streng in der Form, einmal in freien Versen fl iegend, „an der Nasenspitze vorbei“ ist, „seitenverkehrt“ – „unerwartet“ auf jeden Fall. Da sind zwar die Fratzen, Monster und Teufel, wie es sich für die Auseinandersetzung mit dem Inferno gehört, doch wird ihnen ganz meisterlich ein Schnippchen geschlagen.

Darin findet sich nun kein Gestus der Überheblichkeit, vielmehr lesen wir in der Vielfalt des Ausdrucks ein neugieriges, waches erlebendes Ich, das seinen Blick auf die Welt lenkt und dabei von den mikroskopisch kleinen, oft unsichtbaren Regungen bis in die astralen Weiten des Alls und der Physik zu sehen vermag. Und wie Dante Alighieri und Vallazza verschließt auch Wimmer Mazohl ihre Augen nicht vor den Krisen der jeweiligen Gegenwart und deren politischen Implikationen, Bösartigkeiten und dunklen Ungerechtigkeiten – und wie die beiden setzt sie ihr wesentlichen Menschen ein poetisches Denkmal (Dante schickte diese in die Hölle oder ins Paradies, je nachdem, Vallazza erschuf sich seinen eigenen „Parnass“), so dass wir sehr innige und durchaus intime poetische Porträts und Ansprachen lesen.

 

Dieses Ich ruft laut und ungeschönt seine Anklage hinaus über das, was es sieht in diesem Land.

 

Mal wehmütig, ironisch, schalkhaft oder sanft, dann wieder übermütig und ihr Wissen versprühend: Es ist eine Stimme zwischen panta rhei und Tandaradei, eine Troubadoura, die da zu den Leserinnen und Lesern spricht mit vielen verschiedenen Gesichtern, und die viel zu erzählen hat, nicht nur über die Hölle. Denn was ist das schon – die Hölle?

Joachim Leitner

Tiroler Tageszeitung, 11.5.2021

Cornelia Stahl

BÖS Wien, Newsletter, Juli 2021

Neun Skizzenbücher Markus Vallazzas bilden die Hintergrundfolie für Erika Wimmer Mazohls lyrische Notate. Feinsinnig „übersetzt“ sie seine Zeichnungen menschlicher Gesichter in eine eigene Sprache, unterteilt sie in Hölle I, II und III, denen sie jeweils Überschriften wie
visionär-libidinös-profetisch-erlöst. amen, atomar-äolisch-schwärmerisch-kubistisch sowie bandagiert-maskiert-punktiert-flatterhaft vorangestellt. Die Autorin beginnt mit einem Nichtgedicht:

 

„nichtgedicht“ [geprüft]
wenn an einem Tag wie diesen unser tun
auf dem Prüfstand steht

 

Wimmer Mazohl überprüft die Sinnhaftigkeit des Lebens, spiegelt Beobachtungen und Gedanken, erinnert mitunter an Peter Handkes „Versuch über den geglückten Tag“. Das Nichtgedicht appelliert an die Unterbrechung unserer Alltagsraserei, fordert dazu auf, unser bisheriges Tun einer Prüfung zu unterziehen.

Die Lyrikerin übernimmt Vallazzas (Charakter)Bezeichnungen menschlicher Gesichter: visionär, typographisch, romantisch, planerisch etc. und stellt sie titelgebend ihren Gedichten voran.

Vallazzas „Kopfgeburten“, im Buch mittig platziert, ging eine intensive Auseinandersetzung mit Dante Alighieris „Divinia Commedia“ voraus. Der Künstler selbst entdeckte Parallelen zur Gegenwart, identifizierte sich mit Dantes Gedanken: dem einsamen Weg Richtung Hölle, der Ankunft am Läuterungsberg und dem Erreichen des Paradieses als mögliches Ende eigener Lebenskrisen.

Auch Allgegenwärtiges wird bei Wimmer Mazohls lyrisch „übersetzt“:

 

mund nasen schutz (nasenschützer)
                                         für corona 2020

sind gnadenlos alle öffnungen
verriegelt mit schloss versiegelt
gebeutelt ich mensch im auweh
kein schreien / nur lispelbahö 

 

Im zweiten Teil ändert sich der sprachliche Duktus: Namen und Widmungen fließen ein: für markus vallazza, für meine mutter, für adel el sayed, für ingeborg bachmann. Die Autorin bricht bisherige, an Vallazzas Miniaturen ausgerichtete Ordnungen auf, zoomt ganz nah heran an das lyrische Ich.

 

Eine sorgfältig konzipierte Arbeit, ergänzt mit einem wunderbaren Nachwort von Günther Oberhollenzer.

Erika Wimmer Mazohl, geboren 1957 in Südtirol, schreibt Lyrik und Prosa, lebt in Innsbruck.

Ihr Lyrikband liest sich als Hommage an den Südtiroler Künstler Markus Vallazza (1936–2019). Das Ineinandergreifen von Vallazzas Skizzen und Wimmer Mazohls Gedichten beachtet das jeweils Genuine, sodass die Arbeit des Künstlers und der Autorin verschiedenfarbig leuchten.

 

Joachim Leitner

Tiroler Tageszeitung, Mai 2021

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