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Erika Wimmer Mazohl: Orte sind.

Gedichte

von ANNA ROTTENSTEINER

Originalbeitrag Online, Literaturhaus Wien  (http://www.literaturhaus.at/index.php?id=12658) 
 

Das Werk von Erika Wimmer Mazohl ist äußerst facettenreich, es umfasst Romane, Erzählungen, Essays, Stücke, Hörspiele, Installationen, Fototexte und Lyrik. "Orte sind" ist auf eine gewisse Art und Weise ein Lyrik-Debüt, da es eine eigenständige Publikation ist, doch finden sich immer wieder Gedichte oder lyrische Prosa in Wimmer Mazohls Schaffen. Es sei an die exklusive und bibliophile Publikation "Schau ich hinüber zu dir. [Liebesgedichte]" in der Lyrikreihe Offizin S. aus dem Jahr 2008 erinnert, oder an "andernorts/altrove": ein Kunstprojekt mit Fotografien von FotokünstlerInnen, zu dem Erika Wimmer Mazohl den Text verfasste, der nun zum Titel des vorliegenden Lyrikbands wurde.

Die Auseinandersetzung mit, oder anders gesagt, das Sich Einlassen auf Orte spielt im Schaffen von Erika Wimmer Mazohl eine bedeutsame Rolle; auch hier sei auf zwei sehr unterschiedliche Beispiele aus Wimmer Mazohls Werk verwiesen: auf ihr außergewöhnliches Reise- oder Stadtbuch "Meran abseits der Pfade" (2017 im Braumüller Verlag), und auf den in Kürze im Limbus Verlag erscheinenden Roman "Löwin auf einem Bein", der nach Italien, Indien und Nepal führt.

Das Unterwegs-Sein, das physisch damit verbunden ist, kommt nun in konzentrierter Form in der Sprache zum Ausdruck, das sich Einlassen auf ein Gegenüber, seien es ein Mensch, eine Pflanze, oder eben ein Ort, transformiert sich im vorliegenden Gedichtband in Sprache.

In ihm versammeln sich mehrere Zyklen, die "ichkundig" mit einem weiblichen Ich beginnen, bei dessen Haut und der Gewalt, die dieser angetan wurde. Ein Statement, das bewusst einstimmt auf die Perspektive des Folgenden. Der nächste Zyklus "ortserfahren" schwirrt aus und versammelt Ortsbilder, die nach Palestrina führen, nach Ostia Antica, Populonia, Tarquinia, Orte, die mit der antiken Kultur der Etrusker verbunden sind. Dabei werden historisch aufgeladene Beobachtungen in lyrisch dichter Prosa und im Wechsel zwischen deutscher und italienischer Sprache wiedergegeben. Was Orte alles sind, was sie sein können, wird im zentralen Text "Orte sind" auf wunderbar vielfältige Weise einzufangen versucht, wobei die Bewegung zwischen innen und außen, zwischen Nahem und Vertrauten, zwischen dem Fremden draußen und jenem, was uns in uns selbst fremd ist, pendelt.

In den "Echoräumen" spürt Wimmer Mazohl in sensiblen Bildern und mit erzählend federleichter Hand Georg Trakl nach, die "Szenarien" beinhalten den bewusst zu "anderen Orten", zu "andernorts" Stellung beziehenden Text in Form eines Klagelieds, einer Anklage über den Zustand unserer Erde und gleichzeitig auch einer innigen und intensiven Reflexion über das Schweigen, das Sprechen, das Totschweigen und Aussprechen dessen, was nicht legitim ist. Den Abschluss bildet der Zyklus "Herbarien", der Betrachtungen, Meditationen zu Pflanzen und Orten enthält, mit kurzen Prosa-Skizzen, die fußnotenmäßig die Gedichte erweitern und im konkreten Erleben während des Schreibprozesses verankern.

Es sind also äußerst vielschichtige und sehr unterschiedliche Zyklen, die in diesem Lyrikband vereint sind, was verbindet sie nun miteinander? Da ist das beobachtende, niederschreibende Ich, das gemeinhin als das lyrische Ich bezeichnet wird. Es ist in diesen Gedichten gar nicht so, wie wir es kennen, wir finden keine Nabelschau, kein zentrales Ich, das nur von sich aus erzählte. Dieses Ich ist vielmehr sehr wandelbar, unterliegt zahlreichen Metamorphosen oder besser, unternimmt sie, und vermag es so, in die verschiedensten Haltungen und Menschen und Orte zu schlüpfen und deren Perspektive einzunehmen. Ganz deutlich ist dies im Gedicht "je suis" – ich bin : man kennt diese Wortkombination, die erstmals nach dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Jahr 2015 als "Je suis Charlie" zu einer Art Solidaritätsbekundung mit den Opfern wurde. Eine Solidaritätsbekundung, die sich aus der Fähigkeit zur Empathie ergibt, sich auf die Seite der Schwachen, Ausgebeuteten und Unterdrückten begibt und Stellung bezieht – und diese Bewegung kann auch in den Gedichten von Erika Wimmer Mazohl nachvollzogen werden: Sie beziehen Stellung, sind empathisch, indem das lyrische Ich sich in den Anderen, in das Andere hineinbegibt und aus einem Innenraum spricht, der oft der Echoraum des Anderen ist. Oder es wird zu einem "Wir", wie in "damals", einer lyrischen Miniatur, die ganz unauffällig daherkommt, eine Erinnerung ins Bild holend, und dabei wie en passant das Rebellische im Verborgenen streift.

Die Gedichte zeichnet ein großer Reichtum an Details aus, die aber nie selbstverliebt sind. Vielmehr geht es um einen genauen Blick, der am Fotografischen geschult ist und sich auch immer wieder von Fotografien inspirieren lässt und sich auf sie einlässt. Um ein genaues Erfassen geht es, um ein umfassendes und poetisches Erfassen. Dabei stellt sich das lyrische Ich dem, was gerade die Aufmerksamkeit einfordert und in Sprache gebracht werden will, sei es ein Gemäuer, ein Wind, Frauen auf Baustellen, in Saris gekleidet, Leiden, Armut oder eine hundertblättrige Rose. Dafür stehen ihm zahlreiche poetische Register zur Verfügung: mal sind es verknappte, kurze verdichtete Texte, dann wieder lyrische Prosa, synästhetische Orts- und Klangbilder, oder auch Langgedichte mit epischen und erzählerischen Elementen. Und genauso facettenreich sind denn auch die Töne, die in den Gedichten anklingen: ernsthaft, engagiert, verspielt, den Klängen des Vertrauten im Fremden und des Fremden im Vertrauten nachlauschend und sie ins Wort holend.
Sprachlich souverän und fragil zugleich sind es die poetischen Konzentrate einer Schreiberfahrenen und immer wieder die Begegnung mit dem Gegenüber in der Sprache Suchenden.

 


09.01.2020

 

 

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