WIENER ZEITUNG (online)
BUCHKRITIK "Löwin auf einem Bein" von Erika Wimmer Mazohl vom 20.10.2020, 14:00
In die Suche einer Archäologin nach der verschollenen Tochter webt Erika Wimmer Mazohl kunstvoll einen Reisebericht. Vom Reisen und Erinnern erzählt auch der neue Roman von Erika Wimmer Mazohl.
Mitglieder einer gutbürgerlichen Familie, obere Bildungsschicht, prägen das zentrale Dreigestirn von Erika Wimmer Mazohls neuem Roman: Die Südtirolerin Ariane, Expertin für etruskische Kunst, ist eine selbstbewusste, engagierte und sympathische Frau, die sowohl beruflich als auch privat ihren Weg gefunden und eine vorzeigbare Karriere als Archäologin gemacht hat. Ihr Mann Vittorio schreibt ganz in Arianes Sinn als linksliberaler Journalist gegen den erstarkenden Neofaschismus in Italien und gegen die Mafia an. Katja, Arianes zweiundzwanzigjährige Tochter, hat beste Voraussetzungen für eine prächtige Laufbahn, aber sie ist die "Löwin auf einem Bein", die sich unvollständig fühlt, weil sie von ihrem richtigen Vater nichts weiß.
Wie ist das möglich in einer aufgeklärten Familie? Wenn man das Schweigen kultiviert hat, oder immer andere Themen dringender und drängender sind? Wenn man lieber politisch Stellung bezieht als privat? Ariane spürt selbst, dass sie ihrer Tochter viel zumutet, aber vorerst scheint auch Katja Geheimnisse zu haben und es bedürfte geradezu archäologischer Feinarbeit, um das verschüttete gegenseitige Vertrauen freizulegen. Dazu sieht sich Ariane nicht in der Lage und auch der oft ausgleichend wirkende Vittorio ist ratlos, als er herausfindet, dass Katjas scheinbar ertrunkener Freund mit einem Attentat in engem Zusammenhang stehen könnte. Hat Katja sich zu weit vorgewagt?
Die Trennlinie zwischen politischem Engagement und Radikalisierung ist nicht leicht auszumachen, noch dazu, wenn es sich um die eigene Tochter handelt, die vermutlich zuallerletzt ihre Mutter über ihre Aktionen informieren würde.
Als Katja plötzlich von der Bildfläche verschwindet, ist Ariane gefordert, die Zurückhaltung aufzugeben. Ihre Reise nach Indien, Nepal und zu sich selbst beginnt. Denn dort, wo die Tochter sich vermutlich aufhält, war auch einst Ariane, die feststellen muss, dass die eigene Seele oft fremdes Land ist und auch die eigene Vergangenheit einer Aufarbeitung bedarf: "Mit einem Mal sah sie sich selbst, wie sie in ihrem Zimmer in der elterlichen Wohnung in Bozen für ihre Reise nach Nepal packte, sie war gleich alt gewesen wie Katja jetzt. Obenauf im Koffer lag die Fotokopie eines Berichtes über die Ausgrabungen in Muktinath im Königreich Mustang, die sie von ihrem Professor bekommen hatte."
Erika Wimmer Mazohls analytischer Blick auf die Welt und die Menschen macht das literarische Reisen spannend, ohne es anstrengend werden zu lassen. Sie wählt das richtige Reisetempo – strafft, wo es drängt, und nimmt sich Zeit, wo es Ausführlichkeit braucht. Ihre Beschreibungen des geschäftigen Treibens in Indien und der gebirgigen Weiten Nepals sind nicht bloß exotische Würze, sondern basieren auf ehrlichem Interesse für fremde Kulturen und politische Verhältnisse. Ein Interesse, mit dem sie auch ihre Protagonisten fürsorglich begleitet, ohne sie bevormundend in Schutz zu nehmen.
Mit der Autorin Erika Wimmer Mazohl ist man gern unterwegs – nach Italien, nach Indien und Nepal und vor allem zu den Herzen ihrer Romanfiguren. Und sie führt auch mit diesem Roman wieder deutlich vor Augen, was sie in ihren Büchern und Texten nie aus dem Sinn verliert: dass das Private nicht vom Politischen getrennt werden kann.