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24. November 2019 von Buch Redaktion

https://reviews.gangan.at/erika-wimmer-mazohl-orte-sind/

Erika Wimmer Mazohl: Orte sind

edition laurin
Innsbruck 2019

von PETRA GANGLBAUER

 

Erika Wimmers Gedichte schlagen ein wie Kometen. Das ist an dieser Stelle ausschließlich positiv gemeint, sie sind aufgeladen, poetisch und kommen mit einer Wucht daher, der man sich nicht entziehen kann. Avancierte, rhythmisierte Gedichte sind das, die auch politische, gesellschaftliche Themen aufgreifen aber alles Andere als plakativ sind. Im richtigen Augenblick entziehen sie sich der Materialität der Alltagswirklichkeit und werden wortwörtlich abstrakt.


Es gibt auch Gedichte, die auf Reiseerfahrungen fußen: „Indien hier“.
Der Band ist zudem in mehrere Kapitel gegliedert.
Repetitionen ritualisieren die Gedichte, die sohin zu Gesängen werden, zu Zorn–, Trauer oder auch Stillegesängen: das Kapitel „echoräume“ ist übrigens Georg Trakl gewidmet.

Formal spannt sich der Bogen von sperrigen, etwa mit Schrägstrichen ausgestatteten und breit gebauten Texten (Ostia Antica: „sieht grob behauene Blöcke / und die Straßen aus Stein“) bis hin zu fragilen, teilweise durch Lautpoesie untermalten Gedichten: „der klang des schlagbaums“, „der klang des skalpells“, beide knallharte Auseinandersetzungen mit Gewalt – oder aber auch „der klang des papiers“ – allesamt Gedichte, die Teil eines Zyklus in diesem Buch und demgemäß nummeriert sind.

Erika Wimmers Gedichte erzeugen einen Sog, einen Sturm, in den man gerät sobald man die erste Seite des Buchs aufschlägt!

 

 

Erika Wimmer Mazohl: Orte sind. Gedichte – 7.11.2019

 

Innsbruck | edition laurin 2019, 128 S.
von CHRISTINA VETTORAZZI 
aus LiLit-Ausgabe Rezensionen 2019

 

„Orte sind“ Wüsten. „Orte sind“ Berge. „Orte sind“ gezeichnet von der Zeit und „Orte sind“ Liebe. Erika Wimmer Mazohl erforscht in ihrem Gedichtzyklus „Orte sind“ die Phänomene Raum, Zeit, Mensch, Geist und Fleisch. Sie führt die Leserinnen und Leser durch eine Gedichtlandschaft, die von den Kapiteln „ichkundig“, „ortserfahren“, „echoräume“, „szenarien“ sowie „herbarien“ gebildet wird, und bricht dabei mit der gängigen Vorstellung des Ortes als räumliches Konstrukt. Am Beginn der Reise steht ein aktueller gesellschaftlicher Bezug. Das Gedicht heißt „me too“.

 

„auf der herzzugewandten seite“

Durch Social Media können heutzutage innerhalb von Sekunden Meinungen verbreitet und Trends gesetzt werden. So war es auch bei der #metoo-Bewegung, die sich vorwiegend über Instagram sowie Twitter entwickelte und das Ausmaß (sexueller) Gewalt in der modernen Gesellschaft thematisierte. Die Form der verletzenden Handlung wurde bei dem Statement nicht zwangsläufig offengelegt. Es ging um die Vernetzung der Betroffenen, was einerseits die Relevanz des Themas aufzeigte und gleichzeitig vermittelte, dass niemand alleine ist.

„ganz egal / eine flasche
segelt / er droht und
er lallt / ich bin schlampe
verdorben / verflucht“ (S. 8)

In Erika Wimmer Mazohls Gedicht „me too“ (S. 7) steht ebenfalls nicht die eine Form von Gewalt im Fokus. Ein Variantenspektrum an Taten und Kontexten breitet sich vor den Leserinnen und Lesern aus. Das lyrische Ich wird verfolgt, beschimpft, verletzt, erniedrigt. Die Leserinnen und Leser erhalten die Möglichkeit eigene Erfahrungen zwischen den Zeilen zu entdecken und Trost in Gemeinsamkeit zu finden. Doch entsteht durch diesen Beginn nicht nur eine Verbindung zwischen dem lyrischen Ich und den Leserinnen und Lesern, sondern auch ein thematischer Rahmen, der die Gedichte des Zyklus umfasst.

 

„und herrschen – schweben – und herrschen“

„Orte sind“ nicht nur Orte. Zumindest nicht aus der Perspektive von Erika Wimmer Mazohl. Die Autorin führt die Leserinnen und Leser durch eine Landschaft, die es aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten gilt. So werden in „je suis“ (S. 14) die verschiedenen Seiten der Menschen dargestellt. Sie sind Opfer und Täter zugleich. In „me too“ ist diese Perspektive weniger offensichtlich. Das lyrische Ich befindet sich nicht in der Täterrolle. Diese wird dem Anderen überlassen. Doch verwandelt sich das Eigene in einer fremden Geschichte ins Andere, und möglicherweise ist es dort der Verfolger.

„die weißen Blüten und roten
Früchte der Kirschen – Stille
an den Flüssen – Stille über dem
Gestade von Fukushima.“ (S. 71)

Wie die Menschen sind auch ihre Lebensräume nicht nur sauber und schön. Das wird am Beispiel Indiens verdeutlicht. Es handelt sich um eine Region, die relativ wenige Europäer bereist haben und die doch beinahe alle zu kennen scheinen. Manche stellen sich Indien bunt und warm vor. Andere glauben, dass es dort dreckig, laut und überfüllt ist. Mit jedem Vers legt die Autorin ein Bild offen, das wenig aus- und sehr viel einschließt.

 

„die scheu vor landnahme“

In „ortserfahren“ führt die Reise nicht nur nach Indien, sondern beispielsweise auch in die italienische Ausgrabungsstätte „Ostia Antica“ (S. 33). Durch sprachliche Elemente aus dem Deutschen und Italienischen kreiert die Autorin Bilder der Orte, die sich nicht nur auf das gegenwärtige Erleben beschränken.

„so weiß wie ihr Gold / birgt Salz und füllt Kassen / oro dell’
antichità / gewonnen im Schweiße / im Ziel die Gewalt der
Römer / potenza estesa al sangue / Fundament der Stadt sind
die Toten“ (S. 33)

Neben dem Motiv der Gewalt führt die Geographie wieder an den Anfang des Zyklus. In „me too“ beschreibt das lyrische Ich Verletzungen, die sich auf der Haut manifestieren. Jenes Organ wird dadurch zu einer Landkarte des Leides, wie es die Ausgrabungsstätte ist. Doch ist auch die Produktion der gewöhnlichen Landkarte mit Opfern verbunden. Früher schrieb man auf dem „hautkomplex“ (S. 39) toter Tiere. Heute werden Wälder vernarbt.

 

„andernorts sind orte des feuers“

Jeden Freitag versammeln sich Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, um durch zivilen Ungehorsam die Welt zu retten. Die Initiative ergriff die Schwedin Greta Thunberg im August 2018. Mit ihrem „Schulstreik fürs Klima“ machte sie auf eine weltweite Krise aufmerksam. Die Spuren von umweltbewusstem Denken sind überall zu finden: in Supermärkten, in den Medien und in der Kunst. Auch Erika Wimmer Mazohl thematisiert die Krise. In einem „klagelied“ (S. 105) beschreibt die Autorin unterschiedliche Formen des Leides. Die Natur erscheint zerstörerisch. Der Mensch tritt als Opfer auf. Doch steht diese Perspektive auch hier nicht allein: In der so genannten Wohlstandsgesellschaft wirkt der Mensch durchaus auch unachtsam, bis zu selbstzerstörerisch auf seinen unmittelbaren Lebensraum ein.

„andernorts ist die faulheit der ort
ist ein denken das nichts weiter denkt
ist ein schauen das nichts andres sieht
als den wohlstand an unsrem ort“ (S. 111)

Mit filigranen sprachlichen Strukturen greift Erika Wimmer Mazohl aktuelle Probleme auf und gliedert sie in ihren Gedichtzyklus ein. „Orte sind“ glänzt mit einer thematischen Spannbreite, die von dem verletzten Ich bis zum hawaiianischen Guajavebaum reicht, und füllt den Echoraum des lesenden Gegenübers mit unterschiedlichsten Sichtweisen auf Umwelt und Menschheit. „Orte sind“ unvollständige Perspektiven auf die Vollkommenheit des Lebens.

 

7. November 2019, Quelle: LiLiT, https://literaturtirol.at/lilit/orte-sind-gedichte-7-11-2019

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