Ordnung
Ordnung an der Adria, diese Zeichnung ist mir zugefallen. Der Animateur steht mit den Füßen im Wasser, den Rücken zum Meer, er dirigiert die Massen. Der Sandstrand vor ihm ist in Quadraten eingeteilt, wie ein Schachbrett. Die nach Körpermerkmalen geordneten Urlauber tummeln sich auf je einem Quadrat. Achtung! Los! Die nackten Frauen hocken mit gespreizten Beinen. Die breitbrüstigen Jungmänner stehen bereit und Habacht. Schmale Männer liegen abgewandt, wie tot. Die breiten Weiber recken ihr Gesäß in die Höhe. Ein Quadrat macht Handstand, das andere Kniebeugen. Die Sonnenschirme geben eine Gruppe ab, sie stehen in einer Reihe wie Pilze. Weit und breit nichts als Ordnung. Nur eine Möwe spaziert vorbei. Ich lasse das Blatt halbfertig auf dem Küchentisch liegen, gehe spazieren.
Was bei einem Gang durch die Altstadt Spannung erzeugt, ist der Blick durch ihre blanke Fassade hindurch, immer der Niedertracht auf der Spur. Man fühlt sich amüsiert darüber, wie gut die Leute das Lügen beherrschen. Natürlich gibt es hier genauso viele Niederträchtigkeiten wie anderswo auch, doch muß man sie erst suchen. Tatsächlich erscheint der Alltag an der Oberfläche dieser Stadt einfach, langweilig, sauber und schön. Wohlstand und Reichtum sind weit verbreitet, man hat zu arbeiten, man trifft sich mit Freunden, besitzt Wohnung oder Haus. Man umgibt sich mit provinziellem Charme, fröhnt den leiblichen Genüssen, versteht etwas vom Essen und von guten Weinen. Man weiß sich zu kleiden. Die Menschen wirken lebenslustig, aktiv und impulsiv, in den Bars und Kaffeehäusern wird gestikulierend geplaudert, da und dort sogar diskutiert, hier setzt man sich noch auseinander. Die Bevölkerung ist nicht alt, man lacht gerne und viel. Man handelt sehr gekonnt, die Läden sind gepflegt, aber nicht mondän ausgestattet. Bei allem Wohlstand liegt ein Hauch von Bescheidenheit über der Altstadt, ihr Flair besteht in einer Spur von Zurückhaltung, nicht wenig wird ausgestellt, nicht zu viel gezeigt. Hier befindet sich mehr Geld als man sehen kann. Man plustert sich nicht zur Großstadt auf, man gibt sich zufrieden, mit dem, was man ist, hält den Trumpf für den Notfall im Hintergrund. Welcher Notfall, fragt man und ist der Niedertracht dicht auf den Fersen.
Ja, das kleine alte Zentrum der Stadt kann zufrieden mit sich sein! Es geht hier nicht etwa borniert zu, schließlich verfügt man auf engem Raum über zwei Sprachen, zwei Kulturen. Man hat das Verläßliche des Nordens, das Spielerische des Südens in sich vereint. Kalkül steht neben Verschlagenheit, Liederlichkeit neben Etikette, die Fähigkeit zu Entspannung neben Eifer und Fleiß. Man ist in Hamburg und in Palermo gleichermaßen zu Hause. Nirgendwo ist man europäischer als hier! Und der Besucher ist der Niedertracht dicht auf den Fersen.
Als Fremder ist man immer auf ein wenig Unterhaltung angewiesen. Man möchte durchschauen. Man erkennt die Zurückhaltung als Geiz, den kosmopolitischen Anspruch als selbstgefällige Anmaßung. Man freut sich darüber, schlau genug zu sein, die Wahrheit aufgedeckt zu haben. Man schlendert zum Obstmarkt hin. Hier wird einem Buntes geboten, ein Schauspiel der Farben, die Früchte der Gegend, die Blumen der Glashäuser, Händlerinnen hinter den Ständen. Dazwischen Wägen, in denen italienische Spezialisten Würste aller Art, vielfältige Käsesorten und allerlei Eingelegtes feilbieten. Ein Prunk der Ländlichkeit! Was das fruchtbare Land hergibt, ist hier versammelt, dazu die prachtvolle Ernte südlicherer Gegenden. Hinter den Ständen und Wägen sind die Gasthäuser, in denen die Trinker sich aufhalten, beinahe verborgen. Gegen sie ist man durch die Riege der Marktfrauen geschützt, man geht vorbei und beobachtet nur aus den Augenwinkeln, wie zwei Säufer einander anpöbeln. Seelenruhig dahinschlendernd läßt man sich an den Ständen den Sack mit Köstlichkeiten füllen. Hier kennt man keine Armut, man muß das Geld nicht zählen oder gar zusammenhalten. Es herrscht scheinbar Überfluß, selbst die Statue Neptun schiebt sich Früchte ins Maul, selbst die umherstreunende Zigeunerin ist nur eine Attrappe, das von der Fremdenverkehrswerbung angestellte Folklorestück, angehalten, den Touristen bettelnd die Hand vorzuhalten. Damit sie sich reich beschenkt vorkommen, später etwas zu erzählen haben. Dazu ein Afrikaner, der strahlend, als habe er keinerlei Sorgen, seine Uhren, Ketten und Armreifen zum Verkauf anbietet. Was für ein schönes Gemälde, in dem alles harmonisch zusammenspielt: die redliche Arbeit der Bauern, das ästhetische Geschick der Markthändler, die fröhliche Großzügigkeit der Hausfrauen, der schmatzende Brunnen und die für Abwechslung sorgenden Randgruppen! Und am Ende bleibt immer Zeit für einen selbstverständlich italienischen Kaffee bei deutscher Führung. Man atmet den angenehmen Duft und entspann.
Da denkt man nicht mehr an die Niedertracht im Untergrund. Es sei denn, man wäre ein durchwegs mißgünstiger Besucher und dichtete der Stadt etwas an. Es sei denn, man stülpte der sympathischen Bescheidenheit, der wohltuenden Weltoffenheit, dem fleißig erworbenen Wohlstand, der im Charakter liegenden Großzügigkeit, der in der bäuerlichen Tradition wurzelnden Bodenständigkeit und der aus Freude sich täglich aufs Neue entfaltenden Vielfalt Gewöhnlichkeit, Ausbeutung und Ausgrenzung über. Aber würde man sich damit nicht bloß selbst entlarven als einer, der all das sieht, weil er all das kennt? Würde man da nicht aus der Wirklichkeit, die doch eigentlich neutral ist, nur das machen, was man braucht?
Alles nur eine Frage, wie scharf die Linse eingestellt wird. Der faltige Hals, der aus dem Pelzkragen der Dame hervorschaut. Der erstarrte Gesichtsausdruck, der tut als lächle er. Die unwillkürliche Geste des Zuschlagens, die das Kind zurechtweist. Das Aufblitzen von Neid in den Augen der anderen, wenn einer von Erfolg berichtet. Die galante Einladung, auf die üble Nachrede folgt. Die Abschätzung, die im Vorbeigehen herabfällt. Das schlaffe Gesäßfleisch unter der modischen Kunstlederhose. Das Scharren des Absatzes auf dem Kopfsteinpflaster, das Ungeduld ausdrückt. Die großartig ausgelegte Unterhaltung. Das Händereiben, das andeutet, warte nur. Der Handschlag, der nichts gilt. Das Preistreiben, der Betrug. Die vorgeführten Streicheleinheiten. Das Unvermögen, über Schwächen zu reden. Der betuliche Umgang mit Alten und Kranken. Das sorgfältig versteckte Messer. Das Treten und Schlagen im eigenen Haus. Die Sucht, die zugeschminkt wird. Das wir-Gefühl. Das ihr-Urteil. Die du-Anklage. Das Pochen auf Recht. Das Verleugnen von Recht. Das Vergessen. Das Übergehen. Das Überhören. Kaum einer begeht tatsächlich Mord.
Das Terrain ist neutral, die Spielarten der Aggression befinden sich nur im Kopf. Sie ereignen sich als Gedanken, die manchmal durch eine Lücke in die Realität hinaus drängen, dort eine Gestalt annehmen. In der Regel bleiben sie im Bereich des Möglichen, oder sollte man sagen: des Unwirklichen? In der Regel tauchen sie auf und verschwinden, noch bevor man sie bemerkt hat. Sie lassen nur einen schwachen Abdruck zurück, nur ein Bruchteil dessen, was da in einem Kopf abspult, gelangt ins Bewußtsein, noch weniger in die Wirklichkeit. Wem das passiert, der hat Pech gehabt. Was weiß man von seinen eigenen Phantasien? Niedertracht widerfährt einem bloß. Welche Kontrolle, welche Ordnung schwebt wem vor?
Was sich David und Hanna dabei gedacht haben, ist überflüssig zu denken. Zwar wird sichtbar, wie sich jemand zu einer Zeit verhält, doch bleibt sowohl dem Akteur als auch dem Betrachter verborgen, woher das Verhalten kommt, wohin es führt. Was werden sie tun? Warum sage ich tun? Was anderes wird sein als der übliche Kleinkrieg?
Von diesem Platz aus, dem Neptunbrunnen mitten auf dem Obstmarkt in der Altstadt eines Provinznestes, machen sich üble Gewohnheiten und das Hickhack in den nach außen verriegelten Häusern und Wohnungen recht harmlos aus. Man verfügt hier über wohltuende Distanz. Man hat eine größere Bühne vor sich, ist Teil einer Szenerie, die Allmacht beansprucht. Man sieht, etwas wurde geschafft und weiteres ist zu tun. Was sollte man da bedenken oder gar beklagen? Ja, das Terrain ist neutral. Einen Spaziergang lang betrachtet der Besucher die Oberfläche und denkt sich dazu immer nur das, was er kennt. Dann verläßt er den Schauplatz wieder und betritt einen anderen. Was er mitnimmt, ist eine Karikatur des Gesehenen.
Ordnung an der Adria, und das Karikieren ist von jetzt an die einzig angemessene Art zu zeichnen. Sie ist mir zugefallen, ich habe nicht danach gefragt, nicht darum gebeten. Ordnung an der Adria hat mich beim Lachen ertappt. Mein Drang zu zeichnen hat mir die neue Art, auf den Sachverhalt zu blicken, untergeschoben, vielleicht, um die Erklärung für das Gelächter zu liefern. Aber die Karikatur ist nicht nur eine Frage der Beobachtung, der Sichtweise. Sie entsteht aus dem Winkel, in welchem der Zeichner den Bleistift auf dem Blatt Papier führt. Es ist ein steiler Winkel, und der Bleistift ist gut gespitzt. Die Karikatur ist beim Zeichnen, was die Dur-Tonart beim Musizieren ist. Kein Ausholen, kein Nachhängen, keine Metapher, keine Andeutung, nichts Ungefähres. Kein mitleidender Ton. Nur das Ausreizen, die Übertreibung dessen, was ist. Gegen das Überhören, Übergehen, Vergessen.