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NACHBARN und WIR. Für Farhad H.

 

 

 

Er geht dieselbe Straße entlang, berührt mit seinen Schuhen den Asphalt, über den auch ich laufe oder schlendere, je nachdem. Seine Augen schweifen über die Föhren vor seinem und meinem Haus, es sind weithin die schönsten Bäume – zumindest ich liebe die vier Riesen und gehe gern an ihnen vorbei. Hinten im schattigsten Winkel des Gartens sind wir ein paarmal gesessen, er und ich, auf den Planken einer Sandkiste, in der schon lange kein Kind mehr spielt. Wir mit unseren so unterschiedlichen Rucksäcken. Ein desolater Ort jetzt im Sommer, verlassen, staubig und etwas verschmutzt. Hier treffen wir uns zu Gesprächen immer dann, wenn es drüben, in dem von uns und anderen bestellten Gemüsegarten zu heiß ist, dort bricht kein hoch stehendes Laubwerk die Kraft der Sonne, dort flimmert Hitze über Beeten mit mehr oder weniger gut gedeihenden Kartoffeln, Kohl- und Bohnenpflanzen, über wuchernden Zucchini-Stauden und sich schlängelnden Kürbisgewächsen, über Ribisel, Erdbeeren und einigen Blumen und natürlich über seiner besonders schmackhaften Minze, über dem Schnittlauch aus afghanischem Saatgut. Auf dem Viereck zwischen Haus und Haus sprießen Pflänzchen aus aller Welt. Im Frühling oder Herbst trifft man sich dort schon einmal zu Kaffee oder Pizza, zu Speck und Wein, im Hochsommer aber hält uns im Garten nichts außer Arbeit, außer Jäten und Wässern, und allzu oft nicht einmal das. Mein Beet ist, er weißt es, verkümmert.

 

An derselben Bus-Haltestelle stehend, trägt sie ihren Rucksack und ich trage meinen. Mit demselben Bus, dem C oder F, fährt sie in die Stadt, sie reicht demselben Kontrolleur ihre Fahrkarte, sitzt genau wie ich auf dem Einzelstuhl vorne rechts, jedenfalls dann, wenn er frei ist. Wie ich lässt sie sich von Straße zu Straße, von Quartier zu Quartier schaukeln, und wenn der Busfahrer wieder einmal zu abrupt bremst, muss auch sie sich an einer der Stangen oder an einem Haltegriff festhalten. Sie hört dasselbe Busgeschnatter wie ich: Egerdachstraße, Gumppstraße, Schutzengelkirche, straßauf, straßab, täglich, zur Arbeit, zur Ausbildungsstätte, zum Amt oder zum Einkauf, zu irgendeinem Vergnügen. Wir gehen, wir fahren dieselben Wege und wenn wir aus dem Bus steigen, kennen wir uns beide aus und eilen unseren Zielen entgegen, ohne zu zögern. Weder sie noch ich haben Sorge, dass wir uns verirren und nie mehr nach Hause finden könnten. Oder doch? Und was ist zu Hause? So oder so, wir beide sind heimisch geworden in dieser Stadt. Doch welchen Rucksack trägt sie, welchen ich?    

 

John, Farhad, Mustafa, Saskia, Alima, Ludmila. Ihr radelt dieselben Wege entlang, doch euer Gepäckskorb ist anders als meiner. Wenn ihr, wie ich es manchmal tue, vor dem Haus nicht nach rechts, sondern nach links ab- und in die Egerdachstraße einbiegt, so wohl aus nur einem Grund: Wir kaufen unsere Zutaten manches Mal in der Gärtnerei, es gibt dort die frischeren Zwiebel und allerlei gutes Gemüse, Tomaten sogar und Paprika. Der Preis stimmt. Nehmt ihr dann und wann ein paar Schnittblumen mit, oder fleißige Lieschen im Topf, oder Herbstastern? Wohl kaum. In eurem Fahrradkorb ist nur wenig Platz, dort stecken andere Dinge, sie werden immerzu mitgeführt, sie stecken fest. Ein paar geflickte Schuhe, vielleicht. Ein Packen Zeitungen, bereit zum Verkauf. Näharbeit, noch heute abzuliefern. Eine Deutsch-Hausarbeit, diesmal besonders schwierig. Englische Vokabeln, eine Sprache ist nicht genug. In diesem Land herrscht Bildung, mit Betonung auf herrschen. Wir radeln dieselben Wege, wir sind Nachbarn. Doch Zeit für Blumen hat nicht jeder und die Rücksäcke sind anders gefüllt. Eure Behördenwege sind nicht die gleichen wie meine und eure Wünsche auch nicht. Eure Gespräche mit Freunden sind anders und eure Freunde sind anders und ob ihr Freunde habt, das wisst nur ihr. Sicher ist, ihr habt wenig Zeit für Freunde, ihr lauft von morgens bis abends, ihr habt euren Schlaf, gewiss, doch ein Schläfchen ist niemals drin.

 

Du kaufst beim Hofer, Spar oder M-Preis ein, genauso wie ich, beim etwas teureren M-Preis seltener als in den anderen beiden Supermärkten. An der Kasse stehst du in derselben Schlange und das Geld, das genauso aussieht wie meines, schiebst du der gleichen Kassierin zu. Dein Rucksack – oder ist es ein Koffer – ist ein ganz anderer, doch du bezahlst mit derselben Währung. 73, 80 € dividiert durch 7 Wochentage macht rund 10 € am Tag. Ist das nicht etwas zu viel? Wie viel haben wir in unseren Taschen, was besitzen wir, was schleppen wir mit uns mit? Und warum trägt dein Koffer Signalfarbe, während der meine grau, schwarzgrau meliert oder braun ist? Wir ahnen es nur, du hast mir nicht viel erzählt. Wenn wir im Schatten sitzen und uns unterhalten, so sprechen wir über Satzkonstruktionen, über Grammatik und Orthographie.  Und manchmal ein wenig über Literatur, über Goethe sogar. Die Italienreise dieses Genies hat uns beschäftigt und doch am Ende: kalt gelassen. Sie hat weder mit deiner noch mit meiner Reisetasche sehr viel gemein. Wir packen anders und gehen am Ende: nirgendwohin. Denn du möchtest und du wirst: bleiben. Und ich sowieso.

 

Wenn ihr in die Ferne schaut, seht ihr die gleichen Berge, den gleichen Himmel. Wenn ihr in den Fernseher schaut, die gleichen Typen. Ihr fragt euch vielleicht das gleiche wie ich. Auch ihr fragt euch manchmal, was mach ich hier noch, wann geht’s auf die Insel? Doch eure Sehnsucht ist anders als meine. Wir genießen dieselbe Nachtkühle, und zur selben Zeit scheint uns morgens die Sonne ins Fenster. Doch die gleichen Sterne sehen wir nicht. Wir sehen andere Lichter und andere Leerstellen, eure Milchstraße gleicht nicht der meinen, und eure Sternschnuppen finden andere Bahnen als die eurer hiesigen Nachbarn. Doch wenn wir Morgentoilette machen, benutzen wir das haargenau selbe Wasser (Pradler Wasser). Dasselbe Wasser benetzt unsere Gesichter, spült unsere Münder und Zähne. Wir alle haben ein Gesicht, alle einen Mund und Lippen und Zähne gleich viele. Und dann noch dasselbe Licht am Morgen, Mittag und Abend. Den gleichen Regen, den gleichen Wind, das gleiche Rascheln der Blätter im Wind. Den gleichen Straßenlärm. Wir wohnen im selben Stadtteil und wenn wir unsere Adresse angeben sollen, so sagen wir Gumpp. Beide haben wir vergessen, nach wem die Straße benannt ist. Wir sind auf ähnliche Weise vergesslich. Doch gehen wir auf demselben Gehsteig, ist der Koffer, den wir hinter uns herziehen, ein anderer.

 

 

 

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