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Maskenspiele. Die Dichterin, die Alte und ihr Biograph

 

Nachts, wenn sie auf dem Sofa sitzt, weil sie keine Ruhe findet, wandern Magdas Gedanken zu Jakobs Schlaf, folgen seinem Atem, der sich hebenden und senkenden Brust mit den vielen gekräuselten Haaren, die seit einiger Zeit nicht mehr schwarz, sondern schwarz-grau meliert sind. Tagsüber imaginiert sie seinen Schreibplatz, sieht ihn hoch angespannt auf die Tastatur einhämmern, oder sie begleitet seinen gedankenverlorenen Blick durch die schon lange nicht mehr geputzte Fensterscheibe ins Freie, seine bedächtigen Schritte ins Badezimmer oder an der Garderobe vorbei in den Garten hinaus. Nachdenkend geht Jakob umher, er wandert durch Haus und Garten, und manchmal geht er auch in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen. Wenn Jakob allzu verkrampft nach den sogenannten perfekten Formulierungen sucht, spricht er stets dem Wein zu, in der Hoffnung auf Inspiration und Lockerung. Jakob schreibt gegen die Zeit, gegen den Tod an. Rita Bermann soll die Fertigstellung des Manuskripts unbedingt noch erleben, mehr braucht er nicht für den Sieg. Der Erfolg im Literaturbetrieb wird sich, ist das Buch einmal publiziert, wie von selbst einstellen, denn Rita Bermann ist berühmt, und auch Jakob ist kein Unbekannter. Vor allem aber ist die Szenerie frei von Konkurrenz, Jakob ist Bermanns erster und einziger Biograph. Er wird eines Tages die Früchte ernten können, denkt Magda, während sie die Mühen der Ebene noch vor sich hat.

Jakob hat bei allem, was er publiziert, die Bewunderer auf seiner Seite, er scheint ein goldenes Händchen zu haben. Obwohl ihm andererseits sein Rundumglück mit einem Mal zu entgleiten scheint, aber da muss er jetzt durch, zu viel Arbeit hat er schon in die Sache investiert. Er hat sich wegen dieses Buches ganz schön verstrickt. Rita Bermann hat ihn zunächst begünstigt, sie hat ihn zu ihrem Biographen erkoren und damit eingefangen. Um ihn dann immer wieder – geradezu wie ein Insekt – im Netz zappeln zu lassen.

 

Der Verlag lässt schon lange nichts von sich hören. Sie hat der Lektorin den Text und ein Foto für die Vorschau geschickt. Das ist nun sechs Wochen her, seitdem herrscht Stille. Sie muss unbedingt nachhaken, spürt aber einen inneren Widerwillen, es zu tun.

 

Im Lauf der Jahre hat Jakob zahlreiche Gespräche mit der Bermann geführt und alles auf Tonband aufzeichnen dürfen. Das war ein Privileg. Es gab sonst niemanden, der die Grande Dame des historischen Romans auf Tonband aufnehmen durfte, es sei denn, sie las öffentlich vor, was, seit sie die hundert Jahre überschritten hatte, nur noch im Kurhaus Meran vorkam. Die Bermann reiste nicht mehr, doch ins Kurhaus ließ sie sich einladen, ließ sich abholen, hinfahren und zum Lesetisch begleiten. Dass Jakob als einziger die Grenze zum Privaten überschreiten und sie in ihrem Haus in Obermais besuchen durfte, kam einer Sensation gleich. Kein Publizist drang jemals in die Villa der Bermann vor. Da er nicht für das Fernsehen arbeite, sondern Radiojournalist sei, mache sie eine Ausnahme, sie hasse Fernsehjournalisten, Radiojournalisten jedoch hasse sie keineswegs, ließ ihn die Bermann wissen. Sie erlaube ihm ausdrücklich, ihr Haus nicht nur zu betreten, sondern es auch zu besichtigen, zu beschreiben und damit dem Lesepublikum eine Vorstellung davon zu vermitteln. Das Haus sei schließlich exakt so alt wie sie selbst, es sei wesentlicher Teil ihrer Existenz. Er dürfe durchaus, wenn er das wolle, die darin befindlichen Einrichtungsstücke der Öffentlichkeit vorführen – als Schreibender sei er auf Details angewiesen, das sehe sie ein. Doch möge er sich anstrengend und die Dinge nicht verfälschen oder gar verkitschen. Niemals, betonte die Bermann damals, hätte sie irgendjemandem vom Fernsehen erlaubt, ihre geliebte Villa zu filmen, so etwas sei als voyeuristisch abzulehnen, sie verabscheue derartiges zutiefst. Wenn aber ein Autor ein Haus aus seinem Sprachvermögen heraus zu erfassen imstande sei, so sei das etwas anderes.

 

Endlich sind die Druckfahnen gekommen. Als sie das Paket öffnet, ist sie erst perplex, dann desperat. Dass ihr das alternativ vorgeschlagene Cover nicht gefällt, ist eine Sache. Schlimmer ist, man hat die Gedichte sehr eng platziert, durchgehend zwei auf einer Seite, das sieht unmöglich aus. Sie muss den Verlag anrufen und protestieren, auch wenn sie damit das Risiko eingeht, jemanden zu verärgern.

 

Jakob gewann sehr bald, nachdem er sie kennengelernt hatte, das Vertrauen der Bermann – zumindest glaubte er das. Trotzdem fürchtete er sich anfänglich ein wenig vor dieser Frau. Er war der Interviewer, aber bei ihren Gesprächen hatte sie das Sagen, er hingegen wurde zum Aufnehmenden, zu einem Zuhörer, der das Gehörte zu verarbeiten hatte. Er komme sich vor wie der Verwalter ihres Lebens, sagte Jakob mehr als einmal. Magda muss fast lachen jetzt, vor einem Besuch bei der Bermann in Meran hat sich ihr sonst so ruhiger und besonnener Jakob stets in ein Nervenbündel verwandelt, er ist jedes Mal zutiefst besorgt gewesen, den Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, nicht gewachsen zu sein.

Die Bermann schlug ihm vor, die Interviews zur Basis eines Buches zu machen. Sie habe sein jüngstes Buch gelesen, er könne schreiben und er habe das Herz am rechten Fleck. Jakob hatte ursprünglich gar nicht die Absicht, ihre gesamte Biographie zu verfassen, er wollte sich auf ihre Erfahrungen in der Faschisten- und Nazizeit beschränken, doch die Bermann ließ ihn wissen, dass er sie nur ganz, nicht halbiert oder gar gevierteilt haben könne. Entweder alles oder nichts. Und sie sei mit ihm als Gesprächspartner nur unter der Voraussetzung einverstanden, dass er das, was sie ihm über ihr Leben mitteile, richtig zu verstehen geneigt sei, denn nur was er richtig verstehe, könne er auch richtig darstellen. Diese Maxime klang logisch und fand Jakobs Zustimmung, führte aber im Weiteren dazu, dass die Gespräche nicht nur Gespräche waren, sondern zu Prüfungen gerieten. Immer wieder verlangte die Bermann, Jakob möge repetieren und ihr sagen, wie er das und jenes aufgenommen und folglich begriffen habe, so dass er es richtig niederschreiben könne. Das war einmal das eine, was Jakob sich gefallen lassen musste. Das selbst gestellte Ziel der perfekten Formulierung und das Bermannsche Diktat der richtigen Niederschrift führten dazu, dass Jakob sich unter Druck gesetzt fühlte und neuerdings zu viel trank, um locker und inspiriert zu bleiben.

 

Die Mitteilung, ob sie beim Lyrikpreis in M. ausgewählt wurde oder nicht, müsste bald kommen oder besser gesagt: eigentlich schon eingetroffen sein. Die Jury hat schon vor zwei Monaten getagt, doch im Internet sind immer noch keine Ergebnisse zu finden.

 

Das weitere Problem ist die ‚Instanz Andreatta‘. Die Andreatta ist seit dreißig oder mehr Jahren Rita Bermanns Privatsekretärin und ihre zukünftige Nachlassverwalterin. Sie genießt das hundertprozentige Vertrauen der alten Frau. Da sie selbst, so die Bermann, sein Buch womöglich nicht mehr erleben werde, müsse Jakob sich damit einverstanden erklären, dass ihm beim Schreiben die Andreatta über die Schulter schaue. Und ihm allenfalls dreinrede. Das sei ihre Bedingung, die sie vertraglich und unter Einbeziehung des Verlags festgehalten haben wolle. Der Vertrag, der auch vom Verlag unterzeichnet werden musste, sieht vor, dass nur jene Kapitel, die von der Andreatta abgesegnet werden, publiziert werden dürfen. Jakob ist sich damals vor vier Jahren auf der Stelle im Klaren darüber gewesen, was das bedeutet. Die Andreatta konnte, wenn ihr der Sinn danach stand, einzelne Abschnitte, wenn nicht das gesamte Buch, verhindern – ein Gedanke, der ihn begreiflicherweise demütigte. Und dies bis heute tut. Nicht, dass er annimmt, die Andreatta habe etwas Derartiges vor, aber man kann es nicht ausschließen. Wer weiß, wozu sie fähig ist, sobald ihre Chefin nicht mehr das Sagen hat, weil sie tot ist. Glücklicherweise hat die Bermann eine außerordentliche Konstitution, sie lebt Monat für Monat weiter, ist mittlerweile hundertvier Jahre alt und hat gute Aussichten, sein Buch doch noch zu erleben.

 

Wer ist sie schon, dass sie protestieren kommt? Die Lektorin hört sich die Beschwerde an, sagt aber dann, sie könne keine dahingehenden Entscheidungen treffen. Die lägen bei der Graphik. Oder bei der Verlagsleitung. Sie werde aber Rücksprache halten.

 

Der Druck ist gestiegen, erheblich gestiegen sogar und kaum noch zu ertragen. Jakob hat sich für ein halbes Jahr von seinem Brotberuf, der Arbeit beim Rundfunk, beurlauben lassen, um sich in die winterliche Einsiedelei nach Truden zurückzuziehen, wo er im Elternhaus eine Wohnung mit Gartenzugang besitzt. Er schreibt täglich acht Stunden und mehr, wenn er Bewegung braucht, geht er lediglich ein wenig im Garten hin und her. Er faxt Kapitel für Kapitel nach Meran, denn über eine Internetverbindung verfügt die Andreatta nicht. Der Text wird durchgesehen und mit der seit einiger Zeit nicht mehr gehfähigen, geistig jedoch überaus regen Bermann besprochen. Es dauert zwei Wochen, bis er das Placet für einen Abschnitt bekommt – oder eben auch nicht. Meistens verlangen die beiden Damen Änderungen in nicht geringem Ausmaß. Ein unerträglicher Zustand. Jakob leidet, wie er in seinem Leben noch nie gelitten hat. Die Bermann ist rechthaberisch und eifersüchtig darauf bedacht, ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, wobei Jakob nicht mit Gewissheit sagen könnte, welches Bild das genau ist. Das Schlimmste aber ist, dass Jakob zunehmend den Eindruck hat, der Bermann sei es im Grunde egal, ob diese Biographie tatsächlich jemals erscheint.

Wenn Magda nachts wach liegt, steht sie auf, schlüpft in den Bademantel und geht ins Wohnzimmer, wo sie sich in den gepolsterten Sessel schmiegt und ihre Gedanken in den Nachthimmel aufsteigen lässt. Nebenan ist mittlerweile fast jede Nacht laute Musik zu hören, auch Stimmen, Gelächter dringen zu ihr her, die Nachbarn haben so gut wie jeden Abend Besuch. Auch Jakob schläft noch nicht, das weiß sie. Er hat wohl spät gegessen, sich eine pasta tonno zubereitet, sein Lieblings-Schnellgericht, vielleicht hat er auch die Zeit vergessen und schreibt in die Nacht hinein, ohne Hunger zu verspüren. Mit einem Glas Wein neben sich, vermutet Magda.

           

Der Verlag wolle, dass die Lyrikbände die sechzig, siebzig Seiten nicht überschritten. Sie könne aber, das habe die Leitung vorgeschlagen, Gedichte herausnehmen, dann werde das Layout luftiger. Allerdings sei der ohnehin schon magere Lyrikband dann noch magerer. Ob sie einen kargen Lyrikband vorlegen wolle, lasse Dr. Petzel fragen.

 

Vor wenigen Stunden hat sie Jakob angerufen und sich nach seiner Arbeit erkundigt, er hat besorgt geklungen. Die Bermann sei krank, er habe mit der Andreatta am Morgen telefoniert und die Auskunft erhalten, es handle sich lediglich um eine kleine Magenverstimmung. Trotzdem mache er sich Sorgen. Was, wenn sie ernstlich krank wurde und starb! Es wäre dann alles umsonst gewesen, sagt Jakob, und seine Stimme klingt gequält.

 

Der Verlag lässt einmal mehr nichts von sich hören, obwohl sie sofort nachgegeben hat. Zwei Gedichte auf einer Seite, na gut, aber dann soll mindestens ihr Vorschlag für das Cover berücksichtigt werden. Warum melden sie sich nicht? Ob sie will oder nicht, sie muss nachhaken.

 

Jakob mag Rita Bermann und er mag sie andererseits auch nicht. Die Bermann kann sehr liebenswürdig sein, doch auch offen autoritär. Spricht er über die Bermann, so unterstreicht er ihre positiven Eigenschaften, das andere lässt er meistens beiseite. Doch Magda weiß, oder vielleicht spürt sie es eher, wie sehr ihn diese Frau im Grunde irritiert. Wiederholt hat Jakob in Vergangenheit ihre Jugendlichkeit betont, es sei ihre Lebhaftigkeit, die sie jünger aussehen lässt, ihre Art, im Sitzen den Oberkörper hin und her zu wiegen und im Nachdenken die Augen an die Decke zu werfen. Sie sei immer noch vital, ihre Gesichtszüge nicht eigentlich greisenhaft, so dass man ihr höchstens achtzig Jahre gebe, und wenn sie spreche, so vergesse man überhaupt ihr Alter. Sie sei eine anregende Gesprächspartnerin und lasse einen alles andere vergessen.

           

Auf den Herbst verschoben! Diese Nachricht ist wie ein Schlag ins Gesicht. Es habe nichts mit ihrem Gedichtband zu tun. Der Gedichtband eines Kollegen werde aus Gründen, die kompliziert seien, aber nichts mit ihr zu tun hätten, vorgezogen. Sie solle es nicht persönlich nehmen.

 

Die Bermann ist ihm, das weiß Magda, sehr nahe gerückt. Er schätze ihre unbeirrte Art zu sprechen, sagt Jakob, er schätze ihre klaren Aussagen, dazu ihre Gestik, die Gewohnheit, mit den Händen die genau bemessenen Sätze zu unterstreichen, als dulde sie keine Widerrede. Dass die Frau Humor habe, das habe er gleich sehen können, und auch das schätze er. Er habe seinen anfänglichen Verdacht, die Bermann sei eine strenge, vielleicht sogar unerbittliche Frau, bald revidieren müssen.

 

Und ihre Buchpräsentation? Im Herbst seien die Termine des Literaturhauses W. schon komplett, hört sie am Telefon. Man könne allenfalls versuchen, ihre Präsentation gemeinsam mit der Buchpräsentation anderer zusammenzulegen. Sie solle es sich überlegen und möglichst rasch mitteilen, ob sie damit einverstanden sei.

 

Damals, vor vier Jahren, ist Jakob mit einer schriftlichen Zusage in der Tasche nach Meran gefahren, in der naiven Erwartung, die professoressa – so nannte man die Bermann in der Meraner Gesellschaft, sei sie nun deutsch- oder italienischsprachig – gleich am darauf folgenden Tag interviewen und am selben Abend nach Wien zurück fliegen zu können, um ein paar Tage später, genau zu ihrem hundertsten Geburtstag,  das geplante Radioporträt im österreichischen Rundfunk senden zu lassen. Es kam ganz anders. Zu seiner Überraschung ließ ihn die Privatsekretärin Andreatta wissen, die professoressa könne noch nicht sagen, wann sie Zeit für ihn haben werde, zum Gespräch lade sie ihn aber in ihre Villa ein, er dürfe sich darauf freuen.

Um ihm das mitzuteilen, hätte man ihn nicht nach Meran bestellen müssen, das hätte ihm die Andreatta auch telefonisch sagen können. Er kannte diese Andreatta bereits, schon im Vorfeld hatte sie ihn zu der nur für Pressejournalisten zugelassenen wissenschaftlichen Konferenz gebeten. Geladen seien die internationalen Printmedien, das Fernsehen – welcher Nation auch immer – war nicht zugelassen. Auf diese Konferenz wies sie ihn jetzt wieder hin, mit einem Kompliment vertröstete sie ihn, der gerade dabei war, sich über die Verschiebung zu empören: Als Rundfunkredakteur werde er den Printmedienjournalisten gleichgestellt und somit zur intellektuellen Elite der Publizistik gezählt, flötete die Andreatta. Seine Proteste erhörte sie nicht, seine Argumente prallten an ihr ab, die Tatsache, dass er seit Wochen einen festen Termin hatte, dass das Radioporträt am Tag der Konferenz bereits gesendet werden solle und dass ihm also diese sogenannte wissenschaftliche Konferenz überhaupt nicht weiter helfe, und sei sie noch so schmeichelhaft elitär, ließen sie völlig kalt. Auch dass er seinen Sendeplatz gebucht und die Sendung also nicht zu verschieben war, rührte die Andreatta keineswegs. Sie werde ihn am nächsten Morgen anrufen, sagte sie bestimmt und hielt ihm Rita Bermanns Terminkalender vor die Nase, da könne er einmal sehen, was im Moment bei der professoressa los sei und er möge sich fragen, ob er, wenn er einmal hundert sei, das alles noch schaffen werde.

Jakob fand sich drein, zum Glück hatte er ohnehin vor, gleich nach Abschluss der Sendung über die Bermann ein paar Urlaubstage zu nehmen. Er rief also in Wien an, stornierte den Sendeplatz, ließ seinen Urlaub schon jetzt beginnen und blieb in Meran.

Auch wenn man ihn erst am nächsten Tag vorlud, musste er zufrieden sein, sagte er sich. Die professoressa mochte im Allgemeinen keine Interviews geben, überhaupt eines in Aussicht gestellt zu bekommen, sei ein Glücksfall, wusste ihm Frau Insam von der Südtirol-Redaktion schon im Vorfeld zu berichten. Normalerweise, das wusste er jetzt also, mied die Bermann Journalisten und Fernsehleute, ihm aber gewährte sie nicht nur ein richtiges Gespräch, sondern in aller Selbstverständlichkeit auch Zutritt zu ihrem Privathaus. Ein paar Tage länger in Meran zu bleiben, musste ihm die Sache schon wert sein.

Am nächsten Morgen rief die Andreatta an, das Interview werde am darauf folgenden Tag stattfinden, er möge sich einfinden. Am Abend rief sie an, das Interview müsse verschoben werden, man erwarte ihn zu einem späteren Zeitpunkt. Der weitere Termin blieb zunächst offen, wurde gegen Abend definiert und am nächsten Morgen wieder abgesagt, er solle doch zur Konferenz kommen, hieß es, man werde ihn dort der professoressa vorstellen. Jakob dachte an Rita Bermanns Terminkalender und schluckte den lässigen Umgang mit seiner kostbaren Zeit hinunter.

 

Die Veranstalterin vom Literaturhaus W. sagt, nein, ohne ein neues Buch könne keine Lesung anberaumt werden, das sei so nicht vorgesehen. Ach so, bei anderen habe sie das sehr wohl gesehen… das sei wahr und habe mit der größeren Bedeutung dieser Autoren zu tun.

 

Er hatte nicht die Absicht gehabt, an der Konferenz, die zu Ehren von Rita Bermanns hundertstem Geburtstag im Kurhaus stattfand, teilzunehmen. Ihm war es um ein Interview gegangen und um sonst nichts. So hatte er das zunächst gesehen. Jetzt aber änderte Jakob seine Meinung und ging hin, um dieser Frau endlich zu begegnen. Wäre nicht die Anwesenheit der Bermann dort in der ersten Stuhlreihe gewesen, er hätte in diesem Saal nicht einen ganzen Tag ausgeharrt. Er fand die drei vorangestellten germanistischen Vorträge langweilig. Doch er wusste, anschließend würde sie das Wort ergreifen, das durfte er nicht verpassen. Nach den Vorträgen gab es noch einige Lobreden, erst dann sprach die Bermann. Man führte sie ans Rednerpult, man stützte sie beim Gehen, aber ihre Stimme klang erstaunlich fest, Stimmbänder intakt, dachte Jakob. Sie ging gleich auf das Inhaltliche los und auf ihre Vorredner ein, bezog sich auf den einen und anderen Vortrag sehr direkt und nahm sich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, die Bermann-Forschung zu kritisieren. Vor allem einen der anwesenden Germanisten machte sie öffentlich zur Schnecke. Das ist doch alles sehr interessant, dachte Jakob, diese Unbekümmertheit, dieses despektierliche Verhalten gefiel ihm, es vergnügte ihn geradezu. Seine Gereiztheit war verflogen. Als der Schlussapplaus hochbrandete, fühlte er sich richtiggehend belebt.

 

Wann denn das Buch endlich ausgeliefert werde, will der Rezensent wissen. Er brauche zumindest die Druckfahnen, es werde langsam eng, denn er sei darauf angewiesen, mit einer gewissen Vorlaufzeit zu arbeiten. Andernfalls gäbe es keine Chance, dass die Besprechung noch vor dem übernächsten Frühjahr erscheine.

 

Als Jakob den Kursaal verließ, trat die Andreatta mit bisher nicht an den Tag gelegter Freundlichkeit auf ihn zu und teilte ihm mit, er werde die professoressa zwar jetzt nicht sprechen können, er werde aber definitiv am nächsten Morgen um neun Uhr in der Villa erwartet. Er spürte, diesmal war es wirklich soweit, er fand es mit einem Mal logisch, dass seine Geduld auf die Probe gestellt und somit die Ernsthaftigkeit seines Vorhabens geprüft worden war. Offenbar hatte er sich das Vertrauen der Bermann verdient, denn er hatte jetzt ihre Visitenkarte in der Tasche. Die Bermann empfing ihn exakt an ihrem hundertsten Geburtstag, damit hatte er am wenigsten gerechnet. Diese Frau war wirklich erstaunlich, ihm gab sie um neun Uhr morgens ein ausführliches Interview, um elf Uhr gab sie eine Pressekonferenz mit anschließendem Festbuffet – und das mit einem Jahrhundert auf dem Buckel.

 

Sie hat per Mail nachgefragt, wer denn die Kolleginnen und Kollegen seien, mit denen sie ihr Buch vorstellen werde. Sie brauche diese Information für ihre Entscheidung. Seitdem lässt die Veranstalterin des Literaturhauses W.  nichts mehr von sich hören.

 

Wohl ein Dutzend Male hat Jakob den diversen Freunden seinen ersten Besuch bei der Bermann geschildert, Magda kannte die Anekdote schon auswendig. Der erste Teil der Geschichte amüsierte die Leute, der zweite berührte sie. Einiges konnte Jakob voraussetzen, die Bermann war ja kein Niemand. Man wusste, die alte Dame trug hoch geschlossene und, in Anlehnung an Jakobianische Stilvorgaben, lange Kleider mit hohen Krägen, Puffärmeln und Rüschen. Anlässlich ihres einmaligen und legendär gewordenen Auftritts im italienischen Fernsehen, sie war damals neunzig gewesen, trug sie ein dunkles bodenlanges Gewand, das sollte wohl festlich wirken, sah aber nur lächerlich aus. Auch bei seinem ersten Besuch, so pflegte Jakob zu erzählen, habe sie etwas langes Dunkles am Leib getragen, ihre Aufmachung habe ihn an Aristokratinnen konservativster Prägung oder an venezianische Diven erinnert, dabei war die Bermann eine Romanautorin und eine ausgewiesene Demokratin dazu. Sein Blick sei immerzu auf ihre Füße herab gefallen, denn er habe es nicht glauben können, sie habe unter dem schwarzen Kleid rote Strümpfe und rote Samtschuhe getragen. Und erst die Haare! Ihre Frisur habe wie in Marmor gemeißelt ausgesehen, zu perfekt, zu hoch toupiert und zu voluminös für das schmale Gesicht, das zwischen dieser schneeweißen Haarskulptur und dem dunklen Hochkragen mit Rüschen beinahe verschwand. Der erste optische Eindruck sei demnach katastrophal gewesen.

 

Sie muss unbedingt beim Literaturhaus W. nachhaken, sonst verliert sie auch noch den Herbsttermin, soweit sie überhaupt noch im Rennen ist. Gemeinsam mit wem auch immer, alles wurde offen gelassen, nichts zugesagt.

 

Aber dann habe die Bermann zu sprechen begonnen und nach einer Minute habe man ihre Aufmachung vergessen, so verwandelt habe sie gewirkt. Aus dem ersten Eindruck, dieser altmodischen Betulichkeit, sei gerade was das Outfit anging, etwas Gewagtes, ganz und gar Eigenwilliges, geradezu Aufmüpfiges geworden. Denn die Bermann sei im Grunde ein unangepasster, ein widerständiger Mensch, und das sei einer von mehreren Gründen, weshalb ihr Leben so interessant für ihn sei. Und das meine er gar nicht im politischen, sondern eher im psychologischen Sinn. Die Freunde nickten geflissentlich und beglückwünschten Jakob dafür, der Biograph einer solch eindrucksvollen Persönlichkeit zu sein.

 

Wahnsinn, sie glaubt es kaum: Ein Kollege der GAV meldet sich und sagt, er habe ihre Gedichte in der Zeitschrift S. gut gefunden. Ob sie in Salzburg auftreten wolle, im Literaturhaus S. finde im Sommer eine Lyriknacht statt. Sie sagt sofort zu.

 

Wann immer Jakob von der Bermann spricht und Magda diesen fiebrigen Glanz in seinen Augen zu deuten versucht, fragt sie sich, ob er dieser Frau denn tatsächlich verfallen oder einfach nur stinkwütend auf sie ist. Auch wenn wohl eher das zweite zutrifft, so ist das nur ein Beweis seiner Gefangenschaft: Jakob hat sich der Bermann ausgeliefert, ausgerechnet er, der sich noch niemandem ausgeliefert und stets betont hat, Fesselungen welcher Art auch immer zu verabscheuen. Einmal hatte sie den Gedanken, Jakob sei in Rita Bermann verliebt, und weil er in sie verliebt sei, habe er es zugelassen, dass sie ihn abhängig machte, und da er sich abhängig fühlte, hasste er die Bermann gleichzeitig, ein freiheitsliebender Mensch wie Jakob konnte nur jeden hassen, der ihm Fesseln auferlegte. Gesprächsweise kehrte er aber stets die positiven Seiten seiner Beziehung zur Bermann hervor, das war Taktik und musste so lange währen, bis sein Buch zwischen zwei Buchdeckeln untergebracht war.  

 

Sie muss wohl oder übel der Bibliothekarin ihrer Heimatgemeinde in L. mitteilen, dass das Buch auf Herbst verschoben wird und folglich die vereinbarte Lesung bedauerlicherweise ebenfalls verschoben werden muss. Mindestens sind sie ihr dort sehr gewogen.

 

Magda prüft ihr Handy und sieht, dass Jakob angerufen hat. Da sie gerade mit der Kollegin A. telefoniert hat, wobei sie erfahren hat, dass diese mit ihren Gedichten bei einem deutschen Verlag unterkommt, hat er ihr eine schriftliche Nachricht hinterlassen: Rita liegt im Sterben – nur das steht auf dem Display. Rita, also. Den Punkt am Ende des Satzes hat er vergessen, er hat nicht unterschrieben, geschweige denn Grüße geschickt. Magda ahnt, was das bedeutet: Ihr Jakob ist im Ausnahmezustand. Obwohl es spät ist, wählt sie sofort seine Nummer, denn es ist klar, Jakob ist unter den gegebenen Umständen gewiss noch wach, hellwach.

 

Die Veranstalterin des Literaturhauses W. antwortet auch auf ihr zweites Mail nicht. Vielleicht sollte sie anrufen. Damit hat sie aber keine guten Erfahrungen gemacht, die Veranstalter fühlen sich bei Anrufen leicht bedrängt, manchmal sogar genötigt. Sie sind genervt und gehen unwillkürlich in Abwehr. Sie schreibt wohl besser ein drittes Mail.

 

Er spricht mit flüsternder Stimme und berichtet, er sei, kaum habe er die schreckliche Nachricht erhalten, umgehend nach Meran gefahren und sitze mit der Andreatta und zwei entfernten Verwandten der Bermann sowie dem Bürgermeister von Meran im Wohnzimmer der Villa. Anwesend sei auch ein Arzt, der bei der professoressa Wache halte, ihren Zustand laufend prüfe und darauf achte, dass sie keine Schmerzen habe. Die Bermann werde, soviel sei klar, in ihrem Bett und nicht im Krankenhaus sterben, das hat sie ja schon vor Jahren prophezeit, wobei sie das Wort Krankenhaus mit einem Ton der Verachtung ausgesprochen haben soll.  

 

Ihr Chef, schreibt die Veranstalterin des Literaturhauses W., wolle die Buchpräsentation lieber auf das übernächste Frühjahr verschieben. Er finde es schade, wenn an einem Abend womöglich ganz unterschiedliche Lyrik zusammengedrängt werde. Es sei ihm wichtig, dass die Dichterinnen und Dichter genug Raum hätten, um sich entfalten zu können.

 

Jakobs Stimme klingt so, als sei sie eingeklemmt zwischen Adamsapfel und Schlüsselbein, er scheint sehr flach zu atmen. Nein, er sei nicht müde, sagt er, er sei so wach wie schon lange nicht mehr. Trotzdem glaubt Magda Enttäuschung in seiner Stimme wahrzunehmen. Oder ist es wieder diese zurückgehaltene Wut? Die Bermann tut es also tatsächlich: sie stirbt. Sie kennt kein Mitleid mit Jakob und macht sich aus dem Staub, noch bevor er mit ihrer, jawohl ihrer Biographie zu Ende gekommen ist. Die Bermann setzt ihn, der ihr doch jahrelang nichts als gedient hat, der Willkür der Andreatta aus. Die hat mit Sicherheit von der professoressa Instruktionen erhalten, wie nach ihrem Tod zu verfahren sei, doch wer weiß, ob sie sich tatsächlich daran hält. Vor Jahren schon ist die Andreatta, was das Werk der Bermann angeht, mit allen Vollmachten ausgestattet worden. Die rechtlichen Dinge sind längst geregelt, es hat Jakob lange Zeit sehr verunsichert, dass die Rechte in den Händen der Andreatta liegen und nirgendwo sonst.

Jakob sagt darüber kein Wort jetzt, nicht in diesem Moment. Er hört sich bloß an wie jemand, der kaum noch atmet. Er erlebe gerade eine ganz besondere Nacht, haucht er, seine Stimme bebt. Nein, sie brauche sich um ihn keine Sorgen machen. Ja, er werde sie auf dem Laufenden halten.

 

Angesichts der Verschiebung des Buches auf Herbst, sei zwar noch genug Zeit, doch man wolle schon jetzt sagen, dass ihr Covervorschlag nicht so gut angekommen sei, weshalb man eben eine Alternative ausgearbeitet habe. Dabei müsse es bleiben. Geschmäcklerische Rücksichten könne der Verlag nicht nehmen.

 

Am nächsten Morgen schweigt das Handy. Gegen Mittag ruft Magda Jakob an. Ja, sagt er, er habe die Nacht in der Villa verbracht, auf einem Sessel und gemeinsam mit den anderen. Nein, es sehe gar nicht gut aus, es sei mit allem zu rechnen. Ach so, denkt Magda, mit allem zu rechnen also. Mit dem Tod, gewiss, aber womit noch? Jakob scheint es eilig zu haben, sie hört ihn noch sagen, er sei der glücklichste Mensch, denn er habe mit Rita Bermann noch sprechen können. Sie ist ganz klar gewesen, unglaublich, sagt Jakob.

Dass die Bermann im Sterben liegt, kann angesichts ihres biblischen Alters niemanden überraschen. Magda spürt kein Bedauern, sie fragt sich nur, wie es danach wohl weiter geht. Die Bermann gehört mittlerweile zu Jakobs und damit auch zu ihrem Leben, sie ist aus ihrer Gemeinsamkeit kaum noch wegzudenken, jedenfalls nicht so rasch, nicht in der nächsten Zeit. Vier Jahre Bermann haben Jakob und sie beide als Paar verändert. Es ist verständlich, dass er sich von der Tatsache beflügelt fühlt, am Ende doch nicht nur der Sklave zu sein, sondern allem Anschein nach zu Rita Bermanns innerstem Kreis zu gehören.

 

Der Kollege der GAV meldet sich per Mail, er sei in Eile, wolle sie aber doch rasch wissen lassen, dass sie bei der Lesenacht nun doch nicht mitlesen könne. Er habe gedacht, im Frühjahr erscheine ihr neues Buch, das sei in der Zeitschrift S. doch angekündigt worden. Sorry, ohne neues Buch könne sie nicht auftreten. Dann eben nächstes Jahr, meint der Kollege aufmunternd.

 

Ihr Hirn arbeite besser als mit zwanzig, soll die Bermann gesagt haben, als sie bereits hundert war. Schreiben scheint ihr einziger Lebenszweck gewesen zu sein. Sie hat neunundzwanzig Romane vorgelegt, der eine umfangreicher als der andere. Es heißt, die Literatur und die Geschichte seien alles, was sie interessiere und wonach sie ihr ganzes Leben ausgerichtet habe. Keine Ehe, keine Kinder, nur Historie und Literatur. Allenfalls noch Theaterbesuche mit ihrer jüngeren Schwester, die mit im Haus lebte und bis zu ihrem Tod vor dreißig Jahren die Villa in Schuss hielt. Zuletzt hat die Bermann an ihrem dreißigsten Roman, einem Schlüsselroman, gearbeitet, der allerdings unvollendet geblieben ist. Seit ihrem hundertsten Geburtstag schreibt sie nicht mehr, die Nachwelt wird demnach nicht aus erster Hand erfahren, was damals wirklich geschehen ist.

 

Die Bibliothekarin in L. schreibt, dass sie sich bei ihrer Chefin für einen Termin im übernächsten Frühjahr einsetzen werde. Im Herbst gäbe es nämlich keine Möglichkeit, da feierten sie das zwanzigjährige Jubiläum der Bibliothek, ein Sonderprogramm sei vorgesehen und alles schon im Detail programmiert.

 

Was damals wirklich geschehen ist. Man weiß nur, dass die Familie Bermann zu den wenigen Juden gehörte, die die Stadt rechtzeitig verließen. Sie waren gewarnt worden, die Nazis kämen bald über die Brennergrenze, die Lage werde gefährlich. Sie schlossen die Villa hinter sich ab und setzten sich mit wenigen Habseligkeiten in den Zug und fuhren Richtung Süden. In Rom tauchten sie unter, die genaueren Umstände blieben unbekannt, denn die Bermann schwieg darüber beharrlich. Jakobs Recherchen ergaben nur, dass das Haus der Bermann kurze Zeit später geplündert wurde, danach stand es, obwohl es in Staatsbesitz war, jahrelang leer. Als die vierköpfige Familie nach dem Krieg zurückkehrte, zog sie wieder ein und kümmerte sich um die Wiederherstellung der Innenausstattung, die allerdings nicht ganz so prächtig ausfiel, wie sie einmal gewesen war. Damals, als kurz vor der Geburt der kleinen Rita, das neue Haus bezogen wurde, soll es eines der schönsten und modernsten Häuser weit und breit gewesen sein. Das war alles, was Jakob in Erfahrung bringen konnte. Unentwegt hat die Bermann versprochen, ihm alles haarklein zu erzählen, doch dann hat sie es immer wieder aufgeschoben.

 

Der Rundfunkredakteur K. meldet sich. Er habe ihre Zusendung geprüft und finde die neuen Gedichte bis auf ein paar Ausnahmen nicht so gelungen wie die älteren, die er im vorigen Jahr in die Sendung aufgenommen hat. Ob sie noch andere, bessere Gedichte in der Schublade habe? Er wolle das Niveau halten, das sei ja auch in ihrem Interesse.

 

Einen Tag später lebt die professoressa noch immer. Jakob ruft an, er sei noch in Meran, als Biographen der Bermann sei es ihm ermöglicht worden, im Haus ein und aus zu gehen, wie es ihm beliebe. Stundenlang sitze er mit einigen Angehörigen in jenem Wohnzimmer, in dem er vor vier Jahren, zum ersten Mal mit der Bermann gesprochen habe. Du erinnerst dich, flüstert er, sie hat mir nach zwei Minuten schon das Heft aus der Hand genommen. Ich konnte ihr so viele Fragen stellen, wie ich wollte, doch sie hat immer nur über das geredet, was sie und nur sie für angemessen hielt. Magda hört Jakobs leises Lachen und denkt, alles ist in Ordnung, wenn Jakob noch über sich selbst lachen kann. Sie freut sich, wünscht ihm noch alles Gute und drückt die Taste. In diesem Moment hat sie plötzlich den Gedanken, dass aus dem Buch nichts mehr werden wird. Nicht aus rechtlichen Gründen und nicht wegen fehlender biographischer Details, sondern weil Jakob in diesen Tagen selbst angefangen hat, es aufzugeben.

 

Man teilt ihr mit, dass man sich für ihre Einsendung recht herzlich bedanke. Die fünf Ausgewählten des diesjährigen Lyrikpreises in M. würden am Soundsovielten auftreten, um die Auszeichnung entgegen zu nehmen und aus ihren Werken zu lesen. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien herzlich eingeladen, an der Feier teilzunehmen.

 

Epilog

 

Endlich hat er den Schlüssel in der Hand, hat Jakob bald nach seiner Rückkehr gesagt. Jetzt aber liegt er schweigend auf dem Sofa und schaut an die Decke, Magda nippt fortwährend an ihrem Wein, dabei beobachtet sie seinen Atem. Sie folgt der sich hebenden und senkenden Brust, von der sie weiß, dass sie gekräuselte Haare aufweist, die seit einiger Zeit nicht mehr schwarz, sondern schwarz-grau meliert sind.

Was hat die Bermann ihm kurz vor ihrem Tod verraten? Hat sie ihm gestanden, auch Täterin, nicht nur Opfer zu sein? Denn es ist ja so, Täter werden von ihrer Umgebung als Täter gesehen und Opfer als Opfer, denkt Magda. Opfer werden selbst dann als Opfer gesehen, wenn sie sich längst aus der Rolle befreit oder diese Rolle gar nie angenommen haben. Nicht alle verfolgten Menschen werden zu inneren Opfern, zu Opfern vor sich selbst. Die Bermann ist ihrer Meinung nach so jemand gewesen. Es liegt auf der Hand, dass von Ausgrenzung und Verfolgung geprägte Erfahrungen auf das Denken, die Antriebskraft und die Lebensweise eines Menschen wirken. Sie sieht die Antwort ganz konkret in einigen für das Leben der Bermann bestimmenden Figuren und vor allem im faschistischen Vernichtungswillen. Rita Bermanns Wunsch, erst Geschichte zu studieren, um dann Schriftstellerin zu werden, hat sie ihrem Vater gegenüber unter Garantie erst durchsetzen müssen. Auch Mussolini und Konsorten haben für diese intelligente Frau derartiges nicht vorgesehen, sie haben nur ihre Beseitigung im Sinn gehabt. Wenn das nicht genug Antrieb ist! Nämlich der Antrieb, dem Leben die Stirn zu bieten. Die Bermann hat sich geweigert zu kapitulieren, Menschen wie sie kapitulierten nicht, sie zerbrachen nicht. Menschen wie sie waren keine Opfer. Sich zu Höchstleistungen aufzuschwingen war, Magda ist überzeugt davon, für die Bermann eine Form der Auflehnung gegen die Vorstellung, Opfer zu sein.

Endlich richtet sich Jakob auf, er zwinkert ihr zu und stößt sein Glas an ihres. Ich wäre nie darauf gekommen, sagt er. Die Bermann hat ihr Leben als unvollkommen angesehen, als zutiefst unvollkommen. Warum, mag man fragen, sie hat doch alles erreicht, was man als Künstlerin erreichen kann, sie war angesehen und weitum bekannt, in Meran war sie eine Institution, bewundert und geschätzt, von manchen wurde sie geradezu verehrt. Aber das war es nicht: Die Unvollkommenheit ihres Lebens sah die Bermann darin, nicht wie ihre damaligen Römer Freunde, darunter auch ein bekannter Schriftsteller, auf der Seite der Partisanen gekämpft zu haben. Sie war in Widerstandskreise gekommen und hätte diese Wahl gehabt. Doch sie hat mit den Partisanen, die sie persönlich als Freunde gesehen hat, die ihr und ihrer Familie geholfen und vielleicht vor Schlimmerem bewahrt haben, in der Sache nur sympathisiert. Die Unvollkommenheit ihres Lebens, das habe ihm die Bermann kurz vor ihrem Tod gesagt, liege darin, dass sie nicht zum Handeln bereit gewesen sei. Und damit, anders als zwei ihrer Freunde, überlebt habe. Schreiben oder kämpfen, kämpfen oder bei der Familie bleiben, das sei damals in Rom ihre Wahl gewesen und sie habe sich für die Halbherzigkeit entschieden. Das bereue sie. Könnte sie noch zu den Menschen sprechen, würde sie ihnen raten, stets ganzen Herzens zu leben und zu handeln.

Ist das nicht schön? Jakob nimmt einen großen Schluck Wein, er kaut den Wein, bevor er ihn schluckt. Magda sieht den Ausdruck in seinen Augen, es ist kein fiebriger Ausdruck, sondern der Glanz des Siegers. Jakob hebt das Glas und hält es gegen das Licht, er prüft die Beschaffenheit der hin und her schwenkenden Flüssigkeit. Die Bermann, fährt er fort, hat mich gebeten, stell dir vor, gebeten, ein ganz anderes Buch als ‚nur‘ ihre ziemlich langweilige Biographie zu schreiben. Ich sei doch ein famoser Autor und könne den italienischen Widerstand mühelos recherchieren. Und in der Schublade ihres Schreibtisches liege die Adresse des Sohnes einer ihrer Freunde, der wisse die ganze Geschichte und lechze danach, sie endlich jemandem erzählen zu können.

Unglaublich, nicht? Jakob schaut sie, Magda, triumphierend an und jauchzt: Ich soll ihr Leben und ihre Bekanntheit dazu benützen, um in die Welt zu bringen, was die Welt braucht!

 

 

 

 

 

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